Eiskalt wie die Nacht: Thriller (Dicte Svendsen ermittelt) (German Edition)
Gesicht zu lang, die Augen zu groß und die Unterlippe zu füllig. Und dennoch war sie eine attraktive Frau, sie tat auch einiges dafür mit Make-up, Kleidung und ihren Bewegungen. So gelang es einigen Frauen, eine Illusion zu erzeugen.
»Ein etwas ungewöhnlicher Karriereweg«, kommentierte sie. »Du kennst viele hier, oder?«
Er nickte. Das tat er tatsächlich.
Sie neigte den Kopf zur Seite.
»Du hast ganz schön abgenommen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Geht es dir gut?«
Er fragte sich, ob sie nachtragend war und noch alten Groll hegte. War sie Freund oder Feind?
»Mir geht es prima. Und dir?«
Sie richtete sich auf, als wollte sie sich gegen etwas rüsten. Aber wogegen?
»Na ja, Scheidungen sind nie besonders unterhaltsam. Meine auf jeden Fall nicht.«
Sie hatte ihm nie mit besonders großer Begeisterung von ihrer Ehe erzählt. Aber das tat man potentiellen Lovern gegenüber wohl auch nicht. Und Mark wollte nicht weiterbohren, sondern konzentrierte sich wieder auf den Fall.
»Habt ihr schon mit Boutrup gesprochen?«
Sie sah ihn forschend an. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Nein, weil wir überraschend hier im Hafenbecken suchen mussten, darum darf er noch ein bisschen an der längeren Leine sein. Aber ich habe ihn überprüft.«
»Und?«
»Er ist vorbestraft. Genauso wie Ramses Bilal. Sie haben beide zur gleichen Zeit in Horsens gesessen.«
Sie ließ den Blick über das Hafenbecken gleiten, wo dasGummiboot lag. Zwei Hundeführer hatten sich aufgemacht und überprüften die Hafengebäude. Die Hunde wirkten zwar diensteifrig und konzentriert, aber bisher hatten sie noch keine Fährte aufgenommen.
»Aber du glaubst doch nicht, dass er der Täter ist, oder?«
»Immer mit der Ruhe, Mark. Ausschließen können wir niemanden.«
Er nahm einen Schluck Kaffee.
»Weshalb hat er gesessen?«
Sie blinzelte mit ihren blauen Augen gegen die Kälte.
»Ich dachte, du bist hier der Lokalbulle.«
»Jetzt komm schon, Anna.«
»Fahrlässige Tötung. Ein Mann war auf sein Grundstück eingedrungen und hat seinen Hund erschossen. Daraufhin hat Boutrup ihn mit einem Jagdgewehr erledigt.«
Mark seufzte. Er war auch Ermittlungsbeamter. Und hatte das nötige Handwerkszeug durch die Bandenkriege in Kopenhagen gelernt. Dabei war er erst 37. Wie war er nur in diese Situation geraten: seine ehemalige Schülerin und Geliebte war jetzt seine Vorgesetzte.
»Lass mich mit ihm reden«, hörte er sich sagen. »Ihr seid doch bestimmt wie immer unterbesetzt.«
Aus ihrem Gesicht verschwand die Nähe, die er eben noch gespürt hatte.
»Nichts für ungut, aber das Verhören von Mordverdächtigen gehört soweit ich weiß nicht zu deiner Jobbeschreibung.«
Das saß wie eine gut platzierte Ohrfeige, aber er beherrschte sich und setzte einen neutralen Gesichtsausdruck auf. Am meisten ärgerte er sich über sich selbst. Schließlich war er hier, um es ruhig angehen zu lassen. Das war ja der einzige Grund der Versetzung gewesen. Fuck it! Seit sechs Wochen war er auf diesem Posten und hatte sich so dermaßenzu Tode gelangweilt wie noch nie zuvor in seinem Leben. Und jetzt stand er hier und drängelte sich vor, bettelte.
Auch er ließ den Blick über das Hafenbecken schweifen, über dem die Möwen kreisten und wütende Schreie von sich gaben. Er würde vielleicht sterben müssen, aber nicht aus Langeweile. Anna Bagger sollte ihm keine Anweisungen geben, wie er seine Arbeit in seinem Revier zu machen hatte.
»Was willst du dann von mir?«, fragte er, während er in Gedanken schon bei den Häusern auf der Steilküste und bei dem Gespräch mit den beiden Nachbarn war.
Ihr Blick war nach wie vor abschätzend, aber es hatte sich etwas Mildes eingeschlichen.
»Du hast doch bestimmt genug um die Ohren.«
»Mann, Anna, jetzt komm schon. Es gibt doch Dinge, bei denen ich euch helfen kann. Ich könnte zum Beispiel mit Boutrup reden.«
Er nahm eine Hand aus der Jackentasche und zählte auf:
»Wie sah seine Beziehung zu Ramses Bilal aus, außer der gemeinsamen Zeit in Horsens? Warum hat er verleugnet, dass sie sich kennen? Warum ist er abgehauen? Er musste offenbar etwas Wichtiges erledigen. Was war das? Was weißt du überhaupt über ihn?«
Sie antwortete und sah ihm direkt in die Augen.
»Er kommt nicht von hier, sondern hat das Haus vor sieben Jahren gekauft und selbst renoviert. Vor der Gefängnisstrafe hat er auch schon hier in der Gegend als Tischler gearbeitet. So wie jetzt. Sein Chef und die Gemeinde scheinen große
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