Eiskalte Hand (Die Chroniken von Mondoria) (German Edition)
Auskunft versetzte Mia einen schmerzhaften Stich. Sollte es möglich sein, dass es hier…? Nein, diesen Gedanken konnte sie gar nicht erst zulassen. Die anderen Übersetzer hatten sicher mehr Erfahrung und Kenntnis als dieser hier. Vielleicht ein Anfänger? Verunsichert nickte sie dem Mann zu. „Ist in Ordnung.“, sagte sie mit betont fester Stimme. Niemand sollte ihr anmerken, dass sie sich in Wirklichkeit gar nicht so sicher war.
Die nächsten Minuten dehnten sich geradezu zu einer Ewigkeit aus. Geduld gehörte ohnehin noch nie zu Mias Stärken. Und nun wurde sie in einer Weise strapaziert, die sie geradezu an Folter erinnerte. Um ehrlich zu sein, zog sie eine anständige Folter dem hier durchaus vor. Dann endlich wurde sie erlöst, als der Übersetzer zurück in den Raum kam und sich ihr gegenüber an den Tisch setzte. „Es ist mir etwas unangenehm, dies zu sagen.“, begann der Gelehrte leicht stotternd seine Ausführungen, „Keiner der Kollegen konnte die Sprache dieses Dokuments entziffern.“ Mia fiel der Unterkiefer herunter. Damit hatte sie nun beim besten Willen nicht gerechnet. Hier in der Großen Bibliothek, im Hort des Wissens, in der Wiege der Weisheit, hatte man einfach alle Sprachen der Welt zu kennen. Selbst die, die vielleicht schon lange ausgestorben waren. Wütend und trotzig zugleich stampfte sie mit dem Fuß auf den Boden. Der Übersetzer zuckte nervös zusammen. „Ich bitte vielmals um Verzeihung.“, brachte er hastig hervor und schaute die junge Frau fast flehentlich an. „Könnte es vielleicht sein, dass es sich gar nicht um eine Sprache handelt?“, schob er vorsichtig die unbequeme Frage nach, die einer seiner Übersetzer-Kollegen gestellt hatte. „Was soll es denn dann sein?“, gab Mia harsch zurück, „Ein dummer Scherz oder was?“
Schnell schob der Mann das Dokument quer über den Tisch und rückte dann mit dem Stuhl ein wenig vom Tisch ab. Offenbar hatte er Sorge, dass die junge Frau da drüben gleich explodieren würde. Und da schien es ihm besser, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Mias Finger zuckten nervös, als sie nach dem Blatt griff und es an sich nahm. Die Wut kochte in ihr. Am liebsten hätte sie hier alles zertrümmert, ihren Gefühlen freien Lauf gelassen. Nur mit größter Mühe unterdrückte sie den destruktiven Trieb. Ein-, zweimal atmete sie tief durch. Dann noch einmal. Und langsam beruhigte sie sich. Sie wartete noch einige Sekunden. Schließlich stand sie abrupt auf, bedankte sich kurz und förmlich bei dem Übersetzer und verließ den Raum. Wie in Trance durchquerte sie die Hallen der Bibliothek, drängte sich durch die Menschenmassen und strebte dem Ausgang entgegen.
Bestimmt eine Stunde irrte sie durch die große Stadt, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben. Dann hielt sie an und versuchte ihre wirren Gedanken zu sortieren. Dabei merkte sie, dass sie unbewusst in Richtung ihrer Wohnung gelaufen war. ‚Dort sollte es jetzt wieder sicher sein.‘, sagte sie sich. Das Haus Xi-Yang machte nicht mehr Jagd auf sie. Und überhaupt stand die Wohnung nun schon seit etlichen Wochen leer. Da würde sie wohl keiner vermuten, selbst wenn da noch jemand hinter ihr her sein sollte. Also machte sie sich auf in ihr altes Viertel. Jede Ecke und jeder Winkel waren ihr bestens vertraut. Überall kamen Erinnerungen hoch an Dinge, die sie erlebt, und Menschen, mit denen sie zu tun gehabt hatte. Mia ließ die Erinnerungen gerne gewähren, bedeuteten sie doch für den Moment eine willkommene Ablenkung. Da drüben stand die Kneipe von Mutter Lu: der Goldene Koi . Mutter Lu war so etwas wie die Mutter des Viertels. Sie kannte alle hier – und hatte ein hervorragendes Gespür für Befindlichkeiten. Nicht wenige hatten ihr schon das Herz ausgeschüttet und ein wenig Trost erfahren. Bei Mutter Lu traf man sich, tauschte neueste Neuigkeiten aus. Und so manchen lukrativen Auftrag hatte Mia in diesen Räumlichkeiten noch obendrauf erhalten. Für einen kurzen Moment war sie versucht, einfach in die Kneipe zu gehen und sich volllaufen zu lassen. Den Frust runterspülen – auch wenn sie es mit einem dicken Schädel am nächsten Morgen bezahlen müsste. Doch schließlich entschied sie sich dagegen. Sie brauchte einen klaren Kopf. So ging sie weiter.
In der nächsten Querstraße befand sich ein kleiner Lebensmittelladen. Oft hatte Mia hier schon eingekauft. Und sie wusste aus eigener Erfahrung, dass es hier nicht nur das übliche Obst, Gemüse und andere
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