EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller
er in die Staaten, um dort sein Studium fortzusetzen. Niemand hat seitdem etwas von ihm gehört. Im Dorf munkelte man später, dass er Katharina geliebt hat. Ich vermute, dass er ihr die Porzellanpuppen geschenkt hat. Er war ihr Schulfreund. Zweimal im Jahr soll er aus den Staaten nach München geflogen sein, um Freunde zu besuchen, aber in unserem Dorf wurde er immer nur an Katharinas Grab gesehen. Vielleicht ist er doch nicht so unschuldig, wie ich geglaubt habe.“
Benedikt erhob sich und steckte unschlüssig die Hände in die Taschen. „Ich werde der Sache nachgehen.“
Kapitel 44
Der Regen klopfte bis zur Morgendämmerung an die Scheibe. Als sich der alptraumartige Nebel lichtete, sah er deutlich das Haus am Waldrand und den Mann, der es in Zeitlupe betrat; er war bis auf die Haut durchnässt.
Severin war ganz sicher gewesen, den schwächer werdenden Nachhall von Hilfeschreien gehört zu haben, und rannte davon. Selbst unter Androhung von Gewalt hätte er die Tür dieses Hauses nicht zu öffnen gewagt. Er rannte in sein Schlafzimmer und schloss sich ein. Wenigstens hatte es niemand mitbekommen.
Sein Blick streifte über den Wald. Das unentwegt von den Blättern tropfende Regenwasser klang wie Musik, und die Heftigkeit des abgezogenen Sturms zitterte schimmernd in der Luft nach. Nebel krochen über den Boden, rauchige Finger, die sich um die Bäume ringelten und sie in geheimnisvolle Schemen verwandelten. Drüben lag ein Weiher, erstickt unter Herbstlaub.
Severin stand auf und tauchte hinein; ein Mann begleitete ihn. In dem kalten schwarzen Wasser schimmerte das Mondlicht, das zwischen den Seerosen bis auf den Boden des Weihers drang. Tief unten im Wasser entdeckte er Katharina. Ihr vor Kälte erstarrter Körper schimmerte in gespenstischer Blässe. Das Wasser spielte mit ihrem langen blonden Haar. Für einen Augenblick schoss ihm das Gemälde der ertrunkenen Ophelia von John Everett Millais ins Bewusstsein, im nächsten ging er Hand in Hand mit Katharina an der verrückten Alten vorbei, um sich mit dem nächsten Traumlidschlag im Wald wiederzufinden. Ein Mädchen drehte sich nach ihm um. Ophelia? Nein, Anna. Sie verschwand zwischen den Bäumen. Plötzlich trat ein Mann hinter dem Baum hervor und blickte zu ihm herüber.
***
Als Sharon ihn weckte, erschrak sie. Angstverzerrt starrte er sie an.
„Severin, mein Gott, was ist los?“, fragte sie.
„Ich hatte einen schrecklichen Alptraum“, sagte er mit zitternder Stimme.
„Ich weiß“, erwiderte sie und küsste ihn. „Du hast im Schlaf gesprochen. Mein Gott, ich dachte schon, es wäre was Schlimmes.“
„Was habe ich denn gesprochen?“, fragte er, immer noch verwirrt.
„Du hast zuerst den Namen deiner verstorbenen Freundin Katharina und später den von Anna genannt.“
„Was noch?“, fragte er mit banger Stimme.
„Ophelia, und dann noch ein ganz …“
„Ophelia?“, fragte er verwundert. „Wie komme ich denn darauf?“
„Frag mich nicht, ich hab ja nicht geträumt.“ Sie lachte. „Wer weiß, was du wieder alles angestellt hast. Und dann hast du noch einen merkwürdigen Namen genannt, den ich aber nicht verstanden habe.“
Wie erstarrt lag er vor ihr.
„Severin?“ Sie sah ihn besorgt an.
„Sharon, ich muss nach München fliegen.“
Sie nickte. „Ich weiß, mein Liebling. Du würdest dir nie verzeihen, wenn Anna etwas zustoßen würde.“
Er seufzte.
„Glaubst du denn, dass was passieren könnte?“, fragte Sharon.
„Ich bin mir nicht sicher“, sagte er zögerlich.
„Dann verschaff dir diese Sicherheit. Tu, was du für richtig hältst, und komm befreit zu mir zurück.“
„Befreit?“, fragte er erstaunt.
„Ja“, flüsterte Sharon. „Befreit von den Fesseln der Vergangenheit. Katharinas Tod soll nicht länger unser Leben überschatten.“
„Hat er das denn getan?“
„Manchmal, Severin, manchmal.“
„Es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass du so empfindest.“
„In der Nacht höre ich immer wieder, wie du ihren Namen rufst. Katharina ist ein fester Bestandteil deiner Alpträume. Mit einer Rivalin aus Fleisch und Blut kann ich es aufnehmen, aber gegen eine Tote komme ich nicht an. Fahr nach München und komm zu mir zurück, Liebling. Zu mir “, sagte sie und sah ihn ernst an. Plötzlich lächelte sie und fragte: „Hast du Probleme damit, ein Schutzengel zu sein?“
Severin schmunzelte, dann küsste er sie lange, ermutigt durch ihre Komplizenschaft. Mehr konnte er sich gar nicht wünschen.
Er griff
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