EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller
Nase. Sie ging sofort in die Küche. Hoffentlich hatte sie die Zeitschaltung für den Herd richtig eingestellt.
Sie schaute nach. Alles schien in Ordnung zu sein. Gott sei Dank, dachte sie. Für heute reicht es mir.
Sie machte sich einen Espresso und sah den Stapel Post durch. Außer einer Zeitschrift und einer Rechnung gab es noch einen Umschlag, auf den lediglich ihr Vorname gekritzelt war.
Sie war neugierig zu erfahren, von wem der Brief stammte, stand auf, ging ins Esszimmer, schenkte sich den Espresso ein und öffnete ihn.
Liebste Anna,
draußen fällt ein kalter Novemberregen, während ich diese Zeilen schreibe. Es soll Schnee geben. Du bist nicht bei mir, und es geht mir nicht gut.
Heute, als ich in der Klinik vor Deinem leeren Bett stand, wusste ich, dass ich Dich verloren habe. Ich konnte meine Stimme nicht erheben und nicht schreien. Die Schwestern wären sonst auf mich aufmerksam geworden.
Tief in meinem Inneren hatte ich solche Angst, Dich zu verlieren. Ich ertrage diesen Gedanken nicht. Ich werde mir nie verzeihen, dass ich nicht rechtzeitig bei Dir war, um Dich zu beschützen, als Lukas Dich töten wollte.
Immer wieder ist es Lukas, der mit mir sein Spiel spielt und mich von wesentlichen Dingen abhält.
Ich muss schnell schreiben. Gleicht kommt er. Er besucht mich. Ich habe ihm erzählt, dass irgendwo dort draußen ein Mädchen ist. Manchmal sitze ich auf ihrer Bank und warte immer noch auf einen Kuss und auf ein Stück Schokolade von ihr.
Anna, kannst du mir helfen, Katharina wiederzufinden? Sie ist fort, und mir ist so kalt.
Lukas sagt, sie ist tot. Ich rege mich dann auf, und mein Kopf beginnt zu wackeln. Lukas gibt mir eine Injektion in den Oberschenkel, und es wird dunkel. Ich höre nur seine Worte: „Schlafe jetzt, mein Sohn.“ Ich kann nach der Spritze nicht schlafen, aber ich kann fliegen wie die Vögel im Wald.
Nach dem Fliegen wache ich schweißgebadet auf, und wenn es je in meinem Leben einen Moment gegeben hat, wo ich beinahe in Ohnmacht gefallen wäre, dann kann es nur der Moment des Aufwachens gewesen sein.
Lukas steht vor mir; er steht auf dem Stuhl in meinem Zimmer und sieht auf mich herab. Ich sei im Kopf manchmal nicht älter als sieben Jahre, sagt er mir. Sein Gesicht hat dann ein geisterhaftes Leichenweiß, seine Augen sind dunkle Krater, in die man abstürzen kann. Er streckt seine Arme nach mir aus und sagt: „Nimm mich in die Arme, ich möchte dir einen Kuss geben.“
Ich will nicht, aber ich kann nichts dagegen machen. Ich will einen Kuss von dem Schokoladenmädchen. Ich lehne mich nach vorn, ich sehe die Fänge in dem rosa Ring, den seine Lippen formen. Etwas tropft von seinem Kinn, klar und rot, und mit dumpfem, fernem Grauen erkenne ich, dass er geifert. Sein Gesicht wird zu einer Maske aus Wut, Trauer, Hass und Schmerz. Er grinst mich an, und ich kann das düstere Glimmen in seinen Augen sehen.
Irgendwo dort draußen ist Katharina, das Schokoladenmädchen. Und ich glaube, auch sie wartet auf einen Kuss von mir. Ist sie wirklich tot, Anna? Oder belügt Lukas mich, weil er sie für sich haben möchte?
Ich sitze in meiner Wohnung und bin einsam und verzweifelt. Bist Du auch gestorben? Wo bist Du jetzt?
In höchster Not, weil der Tag unerträglich ist und die Nacht mich quält, würde ich gerne mit dir reden über die Art, in der sich das schöne Gefüge der Welt manchmal mit schockierender Plötzlichkeit auflöst. Und über Lukas.
Wenn ich abends ins Bett gehe, achte ich darauf, dass meine Schlafzimmertür abgeschlossen ist und meine Beine, sobald ich das Licht ausschalte, schön unter der Decke liegen.
Wenn Lukas’ kalte Hand nach meinem Fußgelenk greift, werde ich so laut schreien, dass er zurückweicht, und dann werde ich sofort weglaufen. Ich laufe schneller als er. Lukas ist böse. Er schlingt in meinen Träumen Fliegen und Spinnen herunter. Einmal war es sogar ein ganzer Vogel. Ha! Der Vogel hat es nicht zugelassen, und Lukas würgte ihn wieder aus, mit Federn und allem, und der Vogel flog davon. Ich liebe Vögel.
Lukas hat Angst vor dem Mann in mir, und der Tod und die Angst, sie harmonieren miteinander auf wunderbare Art.
Nur ein Gedanke quält mich: Wie kann ich mich von Lukas lösen, mich von ihm befreien, um mit Dir glücklich zu werden?
PS: Ich wollte diesen Brief in Dein Grab legen, doch vor wenigen Minuten habe ich erfahren, dass Du gar nicht tot bist. Du hast Dich mit diesem Max davongemacht. Ich werde Dich finden, und dann …
Jetzt
Weitere Kostenlose Bücher