EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller
Stimme.
„Ich lerne zu verdrängen.“
„Hilft es dir?“
„Hm, ich denke, die Schwangerschaft hilft mir zu vergessen.“
Er zeigte auf das Tonbandgerät. „Hast du etwas dagegen, wenn ich unser Gespräch aufnehme?“
„Nein“, sagte sie und dachte: Das war eine Lüge, Jörg.
„Wie lange hast du heute in der Küche aus dem Fenster gestarrt im Vergleich zu den letzten Tagen?“
Anna zupfte nervös an ihrem Taschentuch. „Weniger.“
„Wie viel weniger?“
„Ich weiß nicht genau.“
„Könntest du einfach mal raten, so für die letzten Wochen?“
„Nicht mehr als eine Stunde pro Tag.“
„Und wie lange ist diese Nacht jetzt her?“, fragte er.
„Du hoffst wohl, dass ich das auch nicht so genau weiß.“
Er ignorierte ihre Antwort. „Wie lange?“
„Zwei Monate und sechsundzwanzig Tage.“ Sie schwieg und starrte einen Moment auf den hellgrauen Teppichboden. Dann blickte sie wieder auf und sagte: „Ich kann es dir auf die Stunde genau sagen, wenn du möchtest. Aber an alles, was danach passierte, kann ich mich nicht erinnern. Tut mir leid, ich kann es nicht ändern.“
„Schon in Ordnung. Das Gedächtnis funktioniert eben so.“
„Jedes Mal habe ich diese Bilder mit einer Gestalt ohne Gesicht vor Augen, der ich meine Narben verdanke.“
„Erinnerst du dich an meine ersten Worte nach dem Erwachen aus dem Koma?“
Sie nickte. „Ich solle loslassen. Max sagt, ich halte krampfhaft an der Vergangenheit fest.“
„Wie versteht ihr euch denn so?“, fragte Jörg freundlich. „Wie oft habt ihr euch denn diese Woche gestritten?“
Anna lächelte. „Max streitet niemals, er verhandelt nur.“
„Wie kommt ihr körperlich miteinander aus?“
„Wie fändest du das, wenn ich dich so etwas fragen würde? Wie ist eigentlich der Sex mit Ihrer Frau, Herr Doktor? Würdest du mir diese Frage beantworten?“
„Ja, aber ich würde dir ein saftiges Honorar dafür berechnen.“
Anna lächelte und sah sich um, als würde sie etwas suchen. „Ich hatte eben doch noch einen Kaffee“, sagte sie zögerlich.
„Nein, heute nicht.“
„Doch! Ich hatte gerade welchen.“ Ihre Stimme klang unwirsch.
„Ich hatte dich gefragt, aber du wolltest heute keinen. Das letzte Mal hattest du welchen. Manchmal vergisst man so etwas.“
„Nein! Ich kann ihn noch schmecken. Das zeigt doch, dass ich es nicht vergessen habe.“
Jörg Kreiler hob seine Tasse und sagte: „Ich vermute, du hast den Duft meines Kaffees gerochen. Das erzeugt eine Geschmackserinnerung, mehr nicht.“ Er sah ihr fest in die Augen. „Du hältst sehr stark fest, Anna. Manchmal braucht die Psyche ein wenig Hilfe, damit sie loslassen kann.“
„Du erwartest also von mir, dass ich loslasse und nicht mehr versuche, mich krampfhaft an diese Nacht zu erinnern, und aufhöre, mein Unterbewusstsein zu zwingen, diesem Gesicht eine Kontur zu geben?“
„Denkst du, dass du dem, was du von dieser Nacht noch weißt, inzwischen etwas hinzufügen kannst?“
Erstaunt sah sie ihn an und schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte sie leise. „Warum sollte ich?“
***
Er beobachtete, lauschte und wartete. Es hatte eine halbe Ewigkeit gedauert, bis sie die Praxis dieses Seelenklempners verließ. Und dann hatte es wieder eine halbe Ewigkeit gedauert, bis sie endlich ins Haus zurückgekehrt war. Während er im Haus auf sie gewartet hatte, hatte er ausreichend Muße gehabt, über seine Macht nachzudenken. Macht wollten alle, nicht nur die Starken und die Bösen. Macht gab es überall, alle gierten danach. Doch nur er übte Macht in einer Form aus, die über alles erhaben war.
Vorsichtig trat er aus seinem Versteck. Trotz der Dunkelheit im Keller fand er sich gut zurecht. Schließlich war er inzwischen schon öfter hier gewesen, und er hatte schon immer ein messerscharfes Gedächtnis für Details. So wusste er auch, wie er sich hier geräuschlos bewegen konnte.
Lautlos öffnete er die Kellertür und ging auf seinen Gummisohlen in die Küche. Es war an der Zeit, sie in seine Obhut zu nehmen.
***
Anna wollte singen, am offenen Fenster stehen und ihre Freude hinausschreien. Das war alles hormonell, hatte der Gynäkologe ihr erklärt, ein chemisches Durcheinander während einer Schwangerschaft, das ihren Körper über eine Achterbahn der Gefühle jagte. Sie wusste, dass sie sich ausruhen sollte, doch der Schaufensterbummel hatte sie abgelenkt von dem anstrengenden Gespräch mit Jörg.
Beim Öffnen der Haustür stieg ihr ein merkwürdiger Duft in die
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