EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller
zum Telefonhörer, wählte die Rufnummer der Delta Airlines und buchte die nächste Maschine nach München.
Nachdem er den Hörer auf die Gabel gelegt hatte, warf er ihr einen zärtlichen Blick zu, der in einem sanften Kuss endete.
„Vielleicht ist es an der Zeit“, flüsterte er.
„An der Zeit wofür?“
„Etwas zu tun, was ich schon vor Jahren hätte tun sollen.“
„Und das wäre?“
Severin fasste ihr Kinn und drehte ihr Gesicht sanft in seine Richtung. „Dich zu fragen, ob du mich heiraten willst.“
Die Stille, die darauf folgte, schien nicht zu enden, und dann liebten sie sich.
***
Stunden später saß er in der Senator-Lounge der Delta Airlines im Logan International Airport in Boston und wartete auf seinen Flug nach München.
Ich weiß, dass ich das Richtige tue, sagte er sich. Doch obgleich die bestärkenden Worte noch nachhallten, schwirrte ein Zweifel um ihn herum wie eine winzige Stechfliege. Doch alle Versuche, sie zu verscheuchen, waren vergeblich.
Er setzte sich kerzengerade auf. Nach seiner Rückkehr würden Sharon und er heiraten. Insofern konnte er sich in München auch um die erforderlichen Dokumente kümmern. Er benötigte für eine Heirat eine internationale Abstammungsurkunde, doch er war lediglich im Besitz diverser Adoptionspapiere und einer Geburtsurkunde in deutscher Sprache, die er sich nicht ein einziges Mal angesehen hatte. Er kannte seinen leiblichen Vater nicht, er hatte nie von ihm gehört, er existierte nicht für ihn, und die Tatsache, dass Nicolas Corelli nur sein Adoptivvater war, war früh verblasst, bis sie ganz verschwand: Er war sein Vater, daher irritierte ihn, sich in Erinnerung rufen zu müssen, dass er auch einen leiblichen Erzeuger besaß.
Flüchtig blätterte er die Papiere durch, bis er plötzlich auf einen Namen stieß.
Und mit einem Mal wusste er, wen die Alte vom Straßenrand gemeint hatte, als sie ihnen mahnend nachrief: „Hütet euch vor Jakob!“ Sie hatte als Einzige die Gegenwart des Wahnsinns erkannt.
Er erhob sich aus dem Sessel und ging in den Toilettenraum der Lounge. Wenig später hatte er sich nicht mehr unter Kontrolle. Er taumelte und spürte seine Beine nicht mehr. Sie waren wie totes Treibholz. In einer dunklen Ecke des Raumes sank er zu Boden, den Blick auf die gegenüberliegende Wand gerichtet.
Mit einem Mal glaubte er auch zu wissen, wem die stotternde Stimme gehörte. In seinen Träumen gab es rätselhafte Räume, aus denen jetzt nicht mehr Katharinas, sondern Annas Hilfeschreie drangen. Er war sich jetzt absolut sicher: Anna war in Gefahr.
Aber dieses Mal würde er nicht versagen.
Kapitel 45
Max verließ nach dem Frühstück das Haus. Anna sah aus dem Küchenfenster und blickte ihm eine Zeitlang nach. Da war sie wieder, diese unerträgliche Stille. Plötzlich hatte sie einen eigenartigen Duft in der Nase und drehte sich um. Ein Stuhl stand halbschräg zum Esstisch, als wollte Max ihr sagen: Ich komme gleich wieder.
Das Telefon klingelte.
Sie hörte ihre eigene Stimme, die nach Namen, Telefonnummer und Anliegen des Anrufers fragte, dann das schrille Pfeifen und das Klicken des Aufzeichnungsgeräts.
Eine Männerstimme. Max.
Rasch hob sie den Hörer ab.
„Hallo“, sagte er. „Ich dachte, du wärst schon fort.“
„Wieso fort?“
„Der Termin um zwölf bei Doktor Kreiler.“
Sie sah auf die Uhr. Halb zwölf. Wie lange hatte sie bloß am Fenster gestanden?
„Was hältst du davon, wenn wir heute Abend essen gehen? Nach unserer Rückkehr sind immerhin schon vier Wochen vergangen“, sagte er. „Es wird langsam Zeit, dass ich dich mal wieder so richtig ausführe.“
„Ich weiß nicht. Ich würde uns lieber etwas kochen.“
„Wird dir das nicht zu viel?“
„Nein, ich koche uns was Schönes. Ich möchte das, Max. Okay?“ Gerade nach einem Gespräch mit Jörg Kreiler möchte ich das, dachte sie.
„Okay. Ist alles in Ordnung, Anna?“
„Ja, alles okay. Also, dann bis später. Ich liebe dich!“
„Bis später“, sagte Max und legte auf.
***
„Da ist ja meine Lieblingspatientin“, begrüßte sie Jörg schmunzelnd, als sie um halb eins sein Sprechzimmer betrat.
Seit ihrem Krankenhausaufenthalt war sie bei ihm in Behandlung.
„Bist du zu allen Patienten so freundlich, die sich um eine halbe Stunde verspäten?“, fragte sie.
„Ganz eindeutig, nein!“
Sie lachten.
Anna nahm in dem bequemen Ledersessel Platz und lehnte sich entspannt zurück.
„Wie geht es dir?“, fragte er mit weicher
Weitere Kostenlose Bücher