EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller
Mutter, weit weg von diesem Dorf und in einem anderen Leben, aber mit ihren Großeltern.
Katharina nahm den Bleistift und schrieb:
Ich glaube, Ben will immer nur mit Mama allein sein, sie ganz für sich haben. Anna wollte er auch nicht, obwohl sie seine Tochter ist. Und Mama? Ich glaube, es geht ihr jetzt besser. Sie kann uns besuchen und in Ruhe die Scheidung vorbereiten. Wenn sie mich besucht, schreit sie mich nicht mehr an, und sie lächelt auch wieder. Und sie nimmt mich in den Arm, wie sie es früher getan hat. Aber all das spielt keine Rolle mehr. Irgendwie glaube ich ihr nicht, und ich mag sie nicht mehr so wie früher .
Sie klappte das Tagebuch zu und sah unruhig auf die Uhr. Es war kurz vor vier, sie hätten schon längst zu Hause sein müssen.
Sie ging durch den Garten zum Haus, lief über die Treppe in die erste Etage und betrat das Zimmer, das sie sich in den nächsten Wochen mit Anna teilen würde. Alles war vorbereitet. Die Fächer des alten Kleiderschranks waren bereits mit neuem Papier ausgelegt und Annas Bett mit einer rot karierten Bettwäsche bezogen. Jasper hatte es sich auf dem Kopfkissen gemütlich gemacht. Mittlerweile war ein Ohr eingerissen, so oft hatte sie ihre Nase hineingesteckt oder es nervös in ihren Händen hin- und hergedreht. Er hatte sie all die Jahre treu begleitet und war ein geduldiger Zuhörer. Er hatte ihr zugehört, jedes Mal, nachdem sie von Ben misshandelt worden war.
Plötzlich hörte sie das Auto herannahen und eilte ans Fenster. Großvater Alexe half Anna aus dem Wagen und hielt behutsam ihre Hand. Katharina rannte die Treppe hinunter und öffnete freudestrahlend die Haustür. Als Anna ihre große Schwester sah, lachte sie und rief laut ihren Namen.
Katharina stürmte auf sie zu. „Ich freue mich so, dass du da bist“, sagte sie heiser.
Anna umarmte sie heftig und lächelte sie selig an.
Katharina zog ein Taschentuch aus der Rocktasche und putzte sich die Nase.
„Bleibst du bei mir?“, fragte Anna leise.
„Ja, für die erste Zeit, natürlich.“
Anna würde Ruhe und Zeit brauchen, um die vergangenen Jahre zu verarbeiten. Und Katharina würde ihr zeigen, dass das Leben schön und farbenfroh war, zumindest im Haus ihrer Großeltern.
***
Manchmal schlief Ben auch mit ihr, ohne sie vorher zu demütigen. Dann schaltete Mirja Wendel ihre Emotionen aus, und es war nur ihr Körper, den er nahm.
Sie fragte sich, ob sie am Zustand ihrer Ehe nicht mitschuldig war. Vielleicht nahm er es ihr übel, dass sie auch Anna vorübergehend bei ihren Eltern untergebracht hatte. Aber sie musste die Kinder schützen.
Auch Anna musterte ihren Vater manchmal mit einem unbehaglichen Blick, wenn er sie besuchte. Das Mädchen hatte selbst zu viel erlebt, um nicht zu spüren, dass zwischen Ben und ihr etwas Ungutes vor sich ging.
Anna hatte die Angewohnheit, Menschen anzusehen, als ob sie in deren Inneres vordringen wollte, doch es schien ihr nicht bewusst zu sein. Sie starrte Ben so lange an, bis er sie maßregelte. Seine Stimme hatte dabei einen scharfen Unterton, doch Anna lachte meistens nur auf.
Wie sollte sie ihr auch erklären, dass ihr Vater ein sadistischer Perverser war? Ihre Tochter war zu jung, um das zu verstehen. Ich muss meine Probleme endlich lösen, dachte Mirja.
Eines Tages sagte sie Ben, dass sie so nicht weiterleben könne. Er hörte ihr wortlos zu, doch ihr entging weder der Zorn in seinen Augen noch das verräterische Zucken seiner Brauen. Sie hatte ihm zu entkommen versucht, doch er war schneller. Hämisch lachend hatte er ihr den Weg verstellt und wild auf sie eingeschlagen.
Als sie den Motor seines Wagens hörte, mit dem er in die nächstgelegene Kneipe fahren würde, um sich zu betrinken, lag sie immer noch zusammengekauert auf dem Boden.
Später, gegen Mitternacht, versprach er ihr, sie nie wieder zu schlagen. Sie verzieh ihm ein letztes Mal und sagte, dass sie nicht den Rest ihres Lebens an der Seite eines Mannes leben wolle, der sie nicht achtete. Das nächste Mal würde sie ihn anzeigen. Sie brauchte nur ins Polizeipräsidium zu gehen.
Drei Tage lang hielt Ben sein Versprechen.
Am vierten Tag sah sie bereits beim Abendessen die Vorboten eines beginnenden Wutausbruchs: Augenbrauen, über die er die Kontrolle verlor. Schweigend starrte er auf seinen Teller und stocherte in den Spaghetti herum.
Mirja trug das Geschirr in die Küche und überlegte. Er würde sie wieder schlagen, das wusste sie.
„Was willst du?“, fragte sie resigniert, als er
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