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EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller

EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller

Titel: EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Korten
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Gesicht lesen, denn sprechen konnte sie nicht.
    Der Mann erhörte ihr Flehen nicht und ging in die Blockhütte.
    Lukas holte erneut seinen Fotoapparat hervor und schoss den Film leer. Immer wieder starrte er auf die geschwollenen roten Lippen und die roten Stellen auf ihrer glatten weißen Haut. Sie war so weiß wie die Haut von Dornröschen und die des Schokoladenmädchens. Und das üppige Haar war so blond, dass es fast unwirklich erschien. Und für einen Augenblick erschrak er furchtbar, weil er dachte, dass dort unten tatsächlich Dornröschen saß.
    Er knabberte hektisch an den Fingernägeln. Dann sah er, wie der Mann aus der Blockhütte zurückkam und ihr ein Seil um die Taille legte, das er an der Rücklehne der Bank befestigte.
    Warum kam denn keiner?, fragte er sich. Zwar tauchten hier nie Spaziergänger auf, aber er hatte vor Monaten den Förster gesehen. Der hatte ihn wegen des Baumhauses angesprochen. Zuerst dachte er, er müsse es abreißen, aber der Förster hatte ihn nur belehrt, dass er keine Waffen bei sich tragen und nicht das Wild aufscheuchen dürfe. Ausgerechnet er, Lukas, der Beschützer des Waldes. Aber der Förster war ganz freundlich gewesen …
    Er schlief ein, das tat er immer, wenn er sich ganz erschöpft fühlte. Weit weg auf den nächtlichen Wiesen warteten die Vögel auf ihre Beute.
    Als er aufwachte, sah er die weiße Sichel des Mondes am Himmel. Verwirrt schaute er zur Blockhütte. Die Frau saß immer noch auf der Bank. Allein.
    In seinem Kopf fieberte nur ein Gedanke: Er musste unbedingt mit dem Mann Kontakt aufnehmen. Wirre Ideen schwirrten durch seinen Kopf. Vielleicht war auch Dornröschen in Gefahr. Er stieg die Sprossen hinunter und befreite die Frau von ihren Fesseln, um sie von ihren Qualen zu erlösen. Er hatte Angst, dass sie schon tot sein könnte, und lief überstürzt zurück. Später ließ er in seinem Versteck den blauen Seidenschal durch seine Hand gleiten. Auf einmal war er überzeugt, dass er sie gerettet hatte, dass sie noch lebte und sich befreien konnte, und er schlief glücklich ein.
    Am nächsten Morgen war sie verschwunden.
    Hatte der Mann sie geholt?
    Er war durcheinander und rannte nach Hause. Die Tante fragte ihn freundlich, ob er die Nacht wieder in der Kinderklinik gewesen sei – was er bejahte – und warum ihr denn niemand Bescheid gesagt habe, was doch sonst immer der Fall sei. Sie hätte schon anrufen wollen, wo er stecke, sagte sie. Aber er sagte nur: „Nein, nein.“ Was bedeuten sollte: Nein, nein, sie brauche sich keine Sorgen zu machen, es sei alles in Ordnung. Aber sie war sowieso schon wieder beruhigt; manchmal glaubte er, es wäre ihr am liebsten, wenn er weg wäre. Eines Tages würde er einfach abhauen, auch wenn er nicht wusste, wohin, denn zu Mama und zu Papa konnte er ja nicht, die waren ja schon im Himmel, und wie man da hinkam, wusste er nicht. Mama hatte mal gesagt, die Menschen müssten warten, bis der liebe Gott sie zu sich nähme, aber das stimmte ja gar nicht, Mama und Papa brauchten gar nicht zu warten, die waren sofort tot. Er wollte unbedingt die Fotos entwickeln, um sie dem Mann unter die Tür zu legen, er sollte wissen, dass er ihn gesehen hatte, er sollte wissen, dass er alles sah, damit er vorsichtig war und Dornröschen in Ruhe ließ.
    In einer Drogerie konnte er den Film nicht entwickeln lassen, bei den Fotos! Aber seine Tante hatte ihm vor drei Monaten, nachdem sie festgestellt hatte, dass es ihm mit seinem Hobby ernst war, eine Grundausstattung geschenkt, die es ihm ermöglicht hatte, im Keller eine kleine Dunkelkammer einzurichten. Die meisten Fotos, die er hier entwickelt hatte, waren Fotos von seinen geliebten Vögeln, Fotos vom Weiher, von den Enten und natürlich von seinem Baumhaus.
    Zwei Stunden später befestigte er an der Wäscheleine in der Waschküche fünf Fotos zum Trocknen.
    Auf dem ersten war ein Mann zu sehen, der sich völlig unbekleidet über eine Frau beugte. Sie hatte den Kopf ein wenig zur Seite gedreht. Das zweite Foto zeigte, wie derselbe Mann die Frau aus der Hütte trug. Zwei weitere zeigten die Wunden, die der Mann der Frau zugefügt hatte. Auf dem letzten Foto sah man, dass ihre Hände mit einem blauen Seidenschal gefesselt waren. Sie saß auf der Bank vor dem Schuppen, und der Mann lackierte ihr mit hellblauem Nagellack die Fingernägel.
    Draußen war es dunkel und hell zugleich: Bis zum Horizont türmten sich riesige Wolkengebilde auf, zwischen denen nur hier und da die Abendsonne

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