EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller
und durchbohrt den Schädelknochen. Blut und Knochensplitter quollen aus der Höhle, wo zuvor das Auge gewesen war.
Ben versuchte zu schreien, versuchte sich zu befreien. Er strampelte mit den Beinen, aber es war sinnlos.
Als die Spitze des Messers das Gehirn durchdrang, lockerte Jakob seinen Griff.
Später starrte er auf die Leiche, ohne sie wirklich zu sehen. Im Geist sah er durch das Fenster, wie Ben Katharinas Haar streichelte. Er stieß einen Klagelaut aus und begann mit den Fäusten auf Bens blutverschmierte Brust zu trommeln. Tränen strömten ihm übers Gesicht.
Dann verschwand das Bild vor seinen Augen, und der Hauch eines Lächelns breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er lächelte wie ein Kind, das gerade etwas zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte.
Er hatte für sein Mädchen getötet. Die Zuneigung für Katharina erfüllte ihn mit Zärtlichkeit. Er hatte immer wieder ihren Blick gesucht, in der Aula, auf dem Spielplatz, und sie hatte ihn mit einem scheuen, verstohlenen Lächeln angesehen, dem Lächeln eines wahren Engels. Dafür lohnte es sich zu töten.
Er ließ Ben liegen und tauchte in die Dunkelheit ab. Er würde die Leiche später entsorgen. Leise, wie er gekommen war, verließ er das Hotelzimmer und schlenderte langsam zu seinem Wagen, den er unweit des Hotels geparkt hatte. Eine selbstbewusste Gestalt, arrogant, beherrscht, ihrer selbst sicher. Und, wie immer, allein. In Gedanken sah er, wie Katharina ihren Kopf gegen seine Brust lehnte und ihre Hand sich zärtlich seiner Wange näherte …
Zurück in der Blockhütte, meditierte er, bis die kalte, anonyme Intelligenz ihn umschloss, dieser Panzer, der ihn unsterblich machte.
***
Zwei Uhr nachts
Im Mondlicht sahen die Luftwurzeln der Silberpappeln wie bleiche Knochen aus. Doch der Mann, der wie ein Schatten am Weiher vorüberhuschte, sah sie nicht. Er war nicht allein, neben ihm ging eine kleinere Gestalt.
Lautlos glitt Bens Leiche in das schwarze, vom Mond gesprenkelte Wasser. Ein leises Klatschen, ein Gluckern, dann war sie weg. Ein paar Wellen kräuselten noch die Oberfläche, schimmerten im Mondlicht, und schon glättete sich der Weiher wieder.
Irgendwo rief klagend eine Eule. Der kleinere Mann blieb stehen, und es schien, als würde er dem Eulenruf lauschen; humpelnd lief er dann dem anderen nach. Bevor er ihn erreichte, drehte der sich um und gab ihm sonderbare Zeichen. Daraufhin kehrte der junge Mann um und verschwand in der Dunkelheit. Es war auffällig, dass er nicht mehr humpelte.
Der Mann ging in den Schuppen neben der Blockhütte, wo ein Toyota-Geländewagen stand, setzte sich hinein und fuhr über wirbelndes Herbstlaub davon.
***
Ben hat uns verlassen. Er ist eines Abends nicht mehr nach Hause gekommen, und Mama ist heilfroh darüber. Mama hat zwar eine Vermisstenanzeige aufgegeben, aber die Polizei hat wohl zu viel zu tun. Und ich glaube, auch Kommissar Hirschau ist froh, dass Ben verschwunden ist. So braucht er ihn wenigstens nicht aus der Kneipe zu holen und ihn in die Ausnüchterungszelle zu stecken. Er kommt schon wieder, Frau Wendel, hat er gesagt.
Hoffentlich nicht!
Mama wird sich – wenn Ben wieder auftaucht – von ihm scheiden lassen. Das hat sie mir versprochen. Ich kann nicht genau sagen, warum ich ihr jetzt glaube. Es ist nur so ein Gefühl. Mama hat mir auch versprochen, nie wieder einen neuen Vater für uns zu suchen. Ach ja – sollte Ben tatsächlich wieder nach Hause kommen, wird die Polizei ihn verhaften. Super!
Mama, Anna und ich wohnen jetzt wieder unter einem Dach und kommen auch so ganz gut zurecht, besonders ohne Ben. Manchmal verdiene ich auch ein bisschen Geld und verkaufe die Kirschen aus dem Garten der Großeltern auf dem Wochenmarkt. Es gefällt mir sogar, denn Severin hilft mir dabei. Wir lachen viel, meine Mutter, Anna und ich, seit Ben uns verlassen hat. Das Leben ist wieder schön .
Kapitel 13
1995
Ich habe mich seit geraumer Zeit nicht mehr meinem Tagebuch anvertraut. Mir war nicht danach. Severin ist in die Staaten gezogen, um in Boston sein Studium aufzunehmen. Er war mein erster vertrauter Freund, und ich vermisse ihn sehr.
Seine überstürzte Abreise hat mich tief getroffen. Er hat sich noch nicht mal von mir verabschiedet. Dabei waren wir so viele Jahre befreundet. Aber ich glaube den Grund zu kennen: Jörg Kreiler. Ich mag diesen Mann. Nein, es ist viel mehr. Ich habe mich in ihn verliebt. Seit ich ihm zum ersten Mal begegnet bin, ist so viel geschehen.
An meinem
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