EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller
zwanzigsten Geburtstag im November 1994 habe ich eine Lehre als Krankenschwester begonnen. Dort bin ich ihm begegnet, und auf dem Waldfest im darauf folgenden Sommer lernte ich ihn näher kennen. Severin bat mich, ihn dorthin zu begleiten. Arm in Arm und gut gelaunt schlenderten wir an diesem Tag zur Wiese hinter dem kleinen Wäldchen. Schon von weitem erkannte ich meine Mutter, die angeregt mit einer Nachbarin plauderte. Seit Bens plötzlichem Verschwinden vor Jahren ist sie richtig aufgeblüht. Er ist nie wieder aufgetaucht, und ich frage mich manchmal, wo er wohl steckt. Und manchmal glaube ich … Nein, an so etwas darf ich nicht denken. Mama könnte niemals einen Menschen umbringen! Doch seit er fort ist, sind wir wieder richtig glücklich.
Katharina zupfte Severin am Ärmel. „Komm, wir setzen uns hier hin, ich möchte nicht für unsere Nachbarn auf dem Präsentierteller sitzen.“
„In Ordnung.“
Sie hatten sich gerade gesetzt, als sie im vorbeiflanierenden Besucherstrom einen jungen Mann entdeckte und ihm zuwinkte.
Severin verzog das Gesicht und stand auf. „Woher kennst du den denn?“
„Ich treffe ihn hin und wieder in der Kantine des Krankenhauses. Warum?“
„Das ist Jörg Kreiler. Er ist Medizinstudent im praktischen Jahr und … Ich hol schon mal was zu trinken. Was möchtest du?“, fragte er mürrisch.
„He, hast du was? Ein Radler, bitte.“
„Nee, was soll ich haben? Möchtest du ihn kennenlernen?“, fragte er nicht gerade überzeugend.
Knapp eine Minute später standen sie sich gegenüber.
„Hallo, Severin“, grüßte Jörg freundlich. Dann schaute er sie an. „Wir haben uns schon mal im Gourmetsalon der Klinik gesehen. Mein Name ist Jörg Kreiler.“
Severin hob den Kopf, nickte kurz, warf Katharina einen Blick zu und ergriff die Flucht.
Sie schmunzelte. Ob er vielleicht eifersüchtig war?
Sie unterhielt sich mit dem attraktiven Medizinstudenten, und als sie ihn einlud, sich doch zu setzen, fing sie einen vorwurfsvollen Blick von Severin auf, der noch mit den Getränken beschäftigt war.
So vernichtend, wie er sie gerade vom Getränkestand aus angeschaut hatte, befürchtete sie schon, dass er nicht mehr an ihren Tisch zurückkehren würde – als ihr Blick sich plötzlich in den starrenden dunklen Augen eines Mannes verfing.
Als die Gestalt aufstand, hielt sie den Atem an.
Jörg drehte sich plötzlich um. „Entschuldige, ich hol uns mal eben ’ne Cola . Das wird wohl nichts mit Severin“, sagte er und sprang auf. Sein Stuhl fiel nach hinten.
„Was meinst du?“, fragte sie fahrig.
Aber da war er schon weg.
Ben? War das gerade Ben, der sie so unverschämt gemustert hatte? Sie hätte weinen können. Immer wieder blickte sie nervös um sich. Die dunkel gekleidete Gestalt war verschwunden. Schließlich entdeckte sie in der Menge Severin, der auf sie zukam.
„Ich möchte nicht, dass du mit ihm tanzt!“, sagte er und zeigte auf Jörg.
Katharina sah ihn entgeistert an. Sein Atem roch nach Bier. „Du hast getrunken.“
Ein älteres Pärchen kam an und fragte, ob noch ein Platz frei sei, was sie mit einem Aufatmen bejahte.
„Bitte, Severin, Benimm dich. Was ist denn in dich gefahren?“
„Na, gibt’s Ärger?“, fragte der ältere Mann.
Severin starrte ihn an und blieb unschlüssig stehen.
Jörg kam mit zwei Gläsern Cola zurück, ignorierte Severin, stellte die Gläser auf den Tisch und ergriff Katharinas Hand.
„Du hast mir einen Tanz versprochen“, sagte er, lachte sie herausfordernd an und zog sie an Severin vorbei zur Tanzfläche.
„Severin scheint mich nicht zu mögen. Ist er dein Freund?“
„Mein Schulfreund.“ Sie spielte kokett mit einer Haarlocke.
„Ach so. Du kannst ihm ja sagen, dass ich dich heiraten werde.“
Katharina lachte laut auf. „Im Ernst?“
Sie musterte Jörg verstohlen. Er war schlank, fast mager, trug Turnschuhe, Jeans und Pullover. Er hatte blaue Augen wie sie, nur dunkler, Lachfältchen und kurzes braunes Haar. Sein Mund war sinnlich, doch vor allem waren es seine verständnisvollen Augen, die ihr Vertrauen einflößten. Während sie sich unterhielten, streichelte er nachdenklich mit Zeigefinger und Daumen der linken Hand sein Kinn. Die Geste gefiel ihr.
Katharina tanzte den ganzen Nachmittag mit ihm. Insgeheim hoffte sie, Severin damit eifersüchtig zu machen, doch als der ihr Radler einfach stillschweigend auf den Tisch gestellt und sich wortkarg verabschiedet hatte, war sie wieder verunsichert und flüchtete sich
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