EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller
in eine gespielte Ausgelassenheit. Trotzdem fand sie Jörg sympathisch, und als sie erwähnte, dass sie abends noch bei ihren Großeltern vorbeischauen wollte, fand sie es angenehm, dass er sie begleitete.
***
Als sie zu Hause leise die Tür von Annas Schlafzimmer aufmachte, kam ihr Anna schon entgegen. „Wo bleibst du denn so lange?“, rief sie.
„Wärst du mitgekommen, hättest du nicht so lange warten müssen“, sagte Katharina. „Aber du wolltest ja nicht.“
„Du bist doch mit Severin hin“, schmollte sie. „Das ist doch dein Freund. Und dann erzählt ihr nur Sachen von euch. Das find ich blöd.“
„Aber ich hab gar nicht mit Severin gesprochen, sondern mit Jörg.“
Anna zog die Stirn kraus. „Jörg?“
Katharina kicherte. „Er ist PJ-ler!“
Anna schüttelte den Kopf. „Was ist denn das?“
„Ein Medizinstudent, der im Krankenhaus ein praktisches Jahr macht und kurz vor dem Examen steht. Verstehst du das?“
„Ja. Er ist kein richtiger Arzt, sondern nur ein halber.“
Katharina seufzte.
„Wenigstens ungefähr?“
„Ja, meinetwegen.“
„Jedenfalls kann er bald eine Familie ernähren.“
„Seine Familie ernährt sich von ihm?“, fragte Anna perplex.
„O Anna, was sagst du da? Bald verdient er genug Geld, damit sich seine Familie genug zu essen, zum Anziehen und sogar einen Urlaub leisten kann.“
„Und warum macht er es nicht?“
Katharina lächelte. „Dummchen, weil er noch keine Familie hat. Aber weißt du, ich hätte schon gern eine Familie. Eine … eine andere Familie als unsere. Wo man nicht Angst haben muss.“
„Ich hatte nur vor Ben Angst. Mama sagte früher immer, ich sollte Papa zu ihm sagen. Aber das tat ich nicht, obwohl er mein Vater war, ähm, ist. Ich bin froh, dass er nicht mehr bei uns ist. So ist es viel schöner.“
„Finde ich auch.“
„Ich weiß.“
„Will er denn auch eine Familie?“, fragte Anna.
„Wer?“
„Jörg.“
„Vielleicht.“ Katharina ging zum Fenster und schaute verträumt hinaus. „Ich heirate nur einen Mann, der viele Kinder haben will. Stell dir vor: ein großes Haus mit großen hohen Fenstern, in die die Sonne schöne Muster malt und wo draußen im Garten lauter glückliche Kinder toben.“
„Und der Mond?“, fragte Anna.
„Hm … In dem Haus macht der Mond keine Angst wie früher bei Mama und Ben, sondern lacht mich an, wenn ich in der Nacht aufwache.“
„Wie in dem Märchen von Großvater Dämmerlicht, der jeden Abend nach Sonnenuntergang eine große Perle aus seiner Schatzkiste nimmt?“
„Richtig.“
Anna reichte ihr das Märchenbuch. „Erzähl mir die Geschichte zu Ende!“
„Anna, ich habe sie dir schon so oft erzählt.“
„Bitte.“ Die großen blauen Augen sahen sie flehend an.
„Also gut.“ Katharina setzte sich aufs Bett, nahm ihre Schwester in den Arm und las ihr das Lieblingsmärchen vor. „Während der Großvater durch den Wald zum See ging, wurde er von einem Reh begleitet, doch bald gesellten sich weitere Tiere dazu. Die Perle in seinen Händen wurde größer und größer und nahm an Leuchtkraft zu. Als der Großvater schließlich am Ufer des Sees angekommen war, blickte er zum Himmel auf und streckte seine Arme aus. Da stieg die Perle zum Sternenhimmel empor. Wenig später entstand aus ihr der silberne Mond, der die Nacht mit seinem Licht erhellte, während sich die Tiere hinlegten und einschliefen.“ Sie schlug das Buch zu. „Und du, meine liebe Anna, machst das jetzt auch. Ab ins Bett mit dir.“
„Was machst du, wenn Severin dich heiraten will?“
„Severin ist doch nur mein Schulfreund, und den heiratet man nicht. Außerdem war er beleidigt, weil ich Jörg auf dem Waldfest eingeladen habe, sich an unseren Tisch zu setzen. Er ist einfach aufgestanden und nicht mehr wiedergekommen. Das finde ich nicht gut. Du?“
„Nee, ich auch nicht. Und alles wegen Jörg?“
„Ja, er ist furchtbar eifersüchtig auf ihn. Er meint, er wäre langweilig. Dabei hab ich die ganze Zeit mit ihm getanzt. Mit Severin hab ich noch kein einziges Mal getanzt.“
„Kommst du mich auch besuchen, wenn du verheiratet bist?“, fragte Anna plötzlich, als Katharina sie zudeckte.
„Aber sicher doch“, antwortete sie, umarmte ihre Schwester und gab ihr einen Gutenachtkuss.
Kapitel 14
Robert Hirschau blieb in der Tür von Andreas Büro stehen. Sie saß an ihrem Schreibtisch und las einen Bericht. Er musste lächeln. Sie knabberte am Ende eines Bleistifts. Das hatte sie schon damals immer getan,
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