EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller
wenn sie sich auf ihre Arbeit konzentrierte – damals, vor mehr als zehn Jahren, als sie zusammen am Mordfall Julia Jahnke gearbeitet hatten und er sich kurz nach dem Fund der Leiche von ihr getrennt hatte. Zum Glück hatte sich das Verhältnis gebessert, als sie ein Jahr darauf den Sohn des Polizeipräsidenten geheiratet und zwei Jahre später eine Tochter zur Welt gebracht hatte. Den Dienst allerdings hatte sie nicht quittiert. Dafür liebte sie die schaurigen Geschichten des Morddezernats anscheinend doch zu sehr.
Er war hier, weil er heute Nachmittag wieder eine Vermisstenanzeige auf seinen Schreibtisch bekommen hatte, die in ihm Erinnerungen an den Mordfall Jahnke geweckt hatte. Er wollte sie Andrea zeigen.
Damals waren die Spuren im Sand verlaufen. Sie waren jedem Hinweis nachgegangen, hatten das Drogendezernat eingeschaltet und die umliegenden Förstereien überprüft, doch alles vergebens.
Seine Mitarbeiter hatten die Bank, in der Julia arbeitete, unter die Lupe genommen. Alle Lokale, die sie mit Kollegen und Freunden besucht hatte, wurden monatelang observiert, ebenso ihre Wohnung. Obwohl der Streifeneinsatz massiv verstärkt wurde, gab es keinerlei Hinweise auf einen Verdächtigen. Sämtliche schaulustigen Zaungäste waren vorgeladen worden. Nichts. Nach zwei Jahren landete die Akte auf dem Stapel der ungelösten Fälle, und da befand sie sich immer noch.
Er klopfte an den Türrahmen.
Andrea drehte sich um und blinzelte ihn überrascht über den Brillenrand hinweg an.
„Kann ich dich kurz sprechen?“, fragte er.
„Natürlich. Komm rein.“
Hirschau setzte sich ihr gegenüber an den Schreibtisch. Sie sagte nichts und wartete geduldig, bis er das Wort ergriff.
„Mir geht neuerdings ein alter, ungeklärter Mordfall nicht aus dem Kopf. Erinnerst du dich an Julia Jahnke?“, fragte er.
Andrea nickte. „Wie könnte ich das vergessen? Erstens hat es zwischen uns damals einige Spannungen gegeben, und zweitens war es die grausamste Leichenverstümmelung, die ich jemals zu Gesicht bekommen habe.“
Er holte Luft und suchte nach den richtigen Worten. „Diese Probleme damals zwischen uns, die hatten gar nichts mit dir zu tun. Es lag nur an mir. Es ist schwer zu erklären.“
„Das musst du auch nicht. Heute zählt unsere Freundschaft, und die bedeutet mir viel.“
„Es ist schön, dass du das sagst“, meinte er mit sanfter Stimme.
Andrea lächelte. „Was kann ich für dich tun?“
„Ich habe heute eine Vermisstenmeldung auf den Tisch bekommen und möchte, dass du dir das hier mal ansiehst. In den vergangenen zehn Jahren sind mehrere junge Frauen spurlos verschwunden, ihre Leichen wurden nie gefunden. Ich habe mir die Akte Jahnke aus dem Archiv kommen lassen. Sieh dir doch noch mal die Fotos an.“
Er reichte ihr eine dicke, mit einer Leinenkordel zusammengebundene Akte, auf der in großen Druckbuchstaben der Name Julia Jahnke stand.
„Was soll das? Ich kenne den Inhalt dieser gebündelten Grausamkeiten in- und auswendig.“
„Wirf trotzdem mal einen Blick rein. Ich bin da auf etwas gestoßen.“
Lustlos blätterte Andrea in den Unterlagen.
„Fällt dir was auf?“ Er klang ungeduldig.
Sie betrachtete konzentriert die Aufnahmen der vermissten Frauen. Dann schaute sie ihn an. „Julia ist blond und die vermissten Frauen ebenfalls. Übereinstimmung Nummer eins.“
Hirschau knurrte leicht genervt. „Findet dein messerscharfer Verstand vielleicht noch eine zweite Übereinstimmung?“
Andrea zögerte einen kurzen Moment. „Sie sind alle sehr attraktiv, fast schon von einer makellosen Schönheit, und haben eine Haut wie Elfenbein. So nennt man das wohl, oder?“
Hirschau blinzelte sie mit seinem berühmten Hamlet-Blick an.
Seufzend beugte sie sich erneut über die Vermisstenfotos. „Ja, du hast recht. Sie sehen sich alle auffällig ähnlich. Woher hast du diese Fotos?“
„Ich habe die Familienangehörigen der vermissten Mädchen gebeten, mir mehrere Schnappschüsse zuzuschicken.“
Er betrachtete noch einmal die Aufnahmen, die die Spurensicherung in Julias Appartement sichergestellt hatte, mit denen ihrer Leiche. Im Neonlicht des Büros erschien das fotografierte Mordopfer realer als in seiner Erinnerung.
In all den Jahren hatte er das unerklärliche Gefühl gehabt, dass es eine Verbindung zwischen dem Mordfall Jahnke und dem mysteriösen Verschwinden der jungen Frauen danach gab. Jetzt hatte er sie: Alle Frauen trugen ihr langes blondes Haar offen, und sie trugen es zur Seite
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