EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller
Eindrücke: Katharina, Anna … Mutter … immer wieder Mutter.
Vier Stunden später setzte er sich an den Tisch und beobachtete durch die offene Tür ein kleines Mädchen, das im Treppenhaus auf einer Stufe saß, und schenkte ihm ein kurzes Lächeln.
Das Mädchen erinnerte ihn an Anna, und an sie wollte er nicht erinnert werden. Sie hatte ihn auf Katharinas Beerdigung genau so angesehen. Schnell stieß er mit dem Fuß die Tür zu. In drei Stunden startete die Maschine der brasilianischen Fluggesellschaft Varig.
Er griff zum Telefonhörer und wählte die Rufnummer der Taxizentrale. Zehn Minuten später fuhr er über die Rodovia Presidencia Dutra zum Aeroporto Internacional Guarulhos .
Kapitel 21
Unmittelbar nach seiner Ankunft mietete er eine 85-Quadratmeter-Wohnung in Schwabing und richtete sie mit dem Notwendigsten ein. Ein paar Tage später besuchte er sein früheres Haus, das er vor seinem Aufbruch nach Brasilien verkauft hatte. Das einsame Grundstück war abgesperrt, und das Haus stand leer. Offenbar war der Käufer in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Schlagartig wurde ihm klar, dass dieser Zustand seinem Vorhaben ideal in die Hände spielte. Er sah sich nach allen Seiten um, bevor er über den Zaun stieg und durch ein Fenster ins Haus schlüpfte. Von außen drang nur schwaches Licht herein. Es war dunkel und feucht.
***
Zwei Tage später schleppte Jakob mehrere Gegenstände in den Keller. Er fror, nicht nur im Keller. Die wohltuende Wärme Brasiliens steckte ihm noch in den Knochen. Den Kamin konnte er nicht anzünden: Man würde schon von weitem den Rauch sehen. Irgendjemand – neugierige Kinder, ein verirrter Fahrradfahrer – könnte Verdacht schöpfen.
Der Keller war bestens geeignet für das Arkanum. Noch einmal checkte er die Liste mit den Gegenständen, die er eingekauft hatte: terrakottabraune Farbe, schwarze Kohlestifte, Einweckgläser in verschiedenen Größen, einen Kanister Formaldehyd, ein runder Tisch, ein Stahlschrank, zwei Eimer, Jagd- und Ausbeinmesser, eine Präzisionssäge, große Kerzen, Plastiksäcke, Einwegschürzen, Gummistiefel. Nur die Drogen und Halluzinogene bewahrte er in seiner Wohnung in Schwabing auf. Er war erstaunt, was man heute alles kaufen konnte, ohne dass man merkwürdig angesehen wurde.
Morgen würde er im ganzen Haus das komplexe Muster arkaner Zeichen malen: auf dem Dielenboden die Sonnenuhr und an den Wänden den Kalender, später kämen die sechs Zeichen des Rituals hinzu, die das Arkanum umschließen sollten.
Draußen war es noch hell. Er schaute auf den Tisch und auf die mit Schimmel überzogene Kellerwand, die ideale Stelle für das Zeichen der Macht. Am Anfang war das Wort. Oder der Buchstabe? Oder die Zahl? Er war ein Gott. Jakob nahm die Kohle und schrieb in schwarzer Farbe: 10 + 5 = Gott.
Den zweiten Ritus konnte er erst in den nächsten Tagen durchführen. Doch dazu benötigte er Katharinas blaues Tuch, das Lukas vor Jahren an sich genommen hatte.
Eine halbe Stunde später parkte er seinen Wagen am Straßenrand, ging am Friedhof vorbei zum kleinen Weiher und setzte sich auf die Bank neben dem Bootsschuppen.
Die paradiesische Flora und Fauna des Naturschutzgebiets Maria Emanuel war im Matsch eines regengrauen Novemberwetters versunken. Die Eichen, Ulmen und Silberpappeln der Auenwälder schienen Trauer zu tragen und waren weit davon entfernt, der westlich angrenzenden lieblichen Wiesen- und Heckenlandschaft Harmonie zu verleihen. Er erinnerte sich lebhaft an eine Szene im Sommer, als ihm der Baum ins Auge gefallen war, der mit Dutzenden von Kormoranen bevölkert war, die träge in die Sonne blinzelten und ihre Brust herausstreckten, um sich zu sonnen. Er hatte sich damals gewundert, hier auf sie zu treffen, weil er wusste, dass sie in Deutschland hauptsächlich am Oberrhein oder an größeren Binnengewässern siedelten, und er hatte gedacht, dass es sich um eine „Abordnung“ vom Starnberger oder Ammersee handelte. Heute gab es von ihnen jedenfalls keine Spur.
Er blickte zu dem Teil des Auenwalds, der mit seinem dichten, undurchdringlichen Unterholz im Sommer am stärksten an den brasilianischen Regenwald erinnerte. Er hatte ihn bis jetzt noch nie betreten. Aber das würde er nachholen, um mit wakan, der allumfassenden Seele, an jenem Ort zu verschmelzen, wo sich seine Wurzeln trafen: dem Auen- und dem Regenwald.
Hinter der Bank stand das kahle Gestrüpp, in dem er sich so oft versteckt hatte, um Katharina zu beobachten. Auch hier ritzte er
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