EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller
ins offene Wasser zurückkehren musste.
Rasch begann er, alles Freiliegende mit dem Segeltuch abzudecken. Es konnte nur noch Sekunden dauern, bis der Regen kam. Jakob drosselte den Motor auf halbe Kraft. Blitze zerrissen den kalten, schiefergrauen Himmel; sie fuhren senkrecht herab, ohne die charakteristische Zickzackform, die er aus Europa kannte. Als die ersten Tropfen wie riesige Silbermünzen auf ihn niederfielen, tauchte im Halbdunkel vor ihm die Hütte auf. Er landete, rannte zur Hütte und verstaute seinen Rucksack sicher im Inneren. Dann stellte er sich unter das Strohdach, wartete und betrachtete das Spektakel.
Der Himmel wurde purpurn, und im Licht der Blitze wirkte der Dschungel weiß und sah aus, als würde er von einer flackernden alten Bogenlampe erhellt. Der Himmel öffnete sich mit gewaltigem Getöse, und dann fiel eine Wasserwand zwischen ihn und die Welt des Amazonas.
Jakob sah kaum die Hand vor Augen, hörte nur das wütende Prasseln des Regens und roch den auf eigentümliche Weise angenehmen Geruch von durchnässten Blättern, Holz und Harz. Ein Geruch, der so faszinierend war, dass er sich während seiner Abstecher nach München immer wieder nach ihm sehnte. Es war der typische Geruch Brasiliens. Und in den über drei Jahren, die er nun hier lebte, haftete er inzwischen unauflöslich an ihm.
Die primitive Gewalt des Gewitters war für ihn eine Offenbarung. Er hatte versucht, sie zu beschreiben und es dem einen oder anderen Bekannten zu erklären, doch man hatte ihn in München nur mit Befremden angesehen.
Er dachte an die zurückliegenden Jahre. Nach der kulturellen Vielfalt der urbanen alten Welt war diese Region Brasiliens, in der es nur Wald und Wasser gab, anfangs ein schockierender Kontrast gewesen.
Nach seiner Ankunft hatte er sich im Bundesstaat Amazonas in der Nähe von Manaus mit Hilfe von Keniãu, einem Afroindianer, und einer großzügigen Spende ein großes Stück Land gekauft, zu dem ein kleines heruntergekommenes Haus gehörte, das er mit Keniãu als Verwalter zu einer traumhaften Fazenda ausgebaut hatte. Im Grunde genommen hatte er nur seine Blockhütte im Auenwald, angepasst an die hiesigen Dimensionen, in den Regenwald versetzt.
Er nannte seinen Verwalter Raimundo. Niemand redete hier einen Mann mit seinem wahren Namen an, es sei denn, er war der Feind. Die Menschen, die er kennenlernte, hatten alle einen Beinamen. Kannte man den Namen eines Mannes, hatte man Macht über ihn. Ein guter Freund durfte den Namen zwar kennen, aber es war unhöflich, ihn offen auszusprechen.
Er stellte die Mulattin Donna Flor als Köchin ein, die mit Raimundos Frau Rosalia befreundet war und vier Kinder von drei Ehemännern ernähren musste. Sie hatte die typischen funkelnden Augen einer Brasilianerin und ein Gesicht mit negroiden Zügen, das von einer schwarzen Mähne umrahmt war.
Am Tag verwöhnte ihn Donna Flor mit traditioneller brasilianischer Küche. Jakob liebte das Nationalgericht Feijãoda – schwarze Bohnen mit Schweinefleisch, gemischt mit Gewürzen der Region – und trank am liebsten den limonengrünen Caipiriñha oder eine Batida de Maracuja in den leuchtenden Farben einer Orange. In der Nacht gestattete ihm Donna Flor, ihren gewaltigen schokoladenbraunen Körper zu erforschen, der nach Zimt und Nelken duftete. Sie konnte ihn allerdings nur mäßig befriedigen.
Manchmal, wenn die Träume ihn schweißgebadet aufschrecken ließen und er glaubte, die Geräusche von Stiefelschritten zu hören, trieb es ihn zum Fluss, wo er kleine Alligatoren jagte und ihr Fleisch aß. Das Licht seiner Taschenlampe blendete die blauen Augen der Tiere, und in Gedanken tötete er mit jedem Exemplar Katharina aufs Neue.
Er glaubte, am Ende seiner Erkundungsfahrt nach seinem wahren Ich zu sein. Umgeben von einer riesigen, undurchdringlichen, schweigenden Vegetation konnte er seinen Trieb austoben, fand er sich doch in einer Welt wieder, die sich vollkommen seinen Gesetzen anpasste und ihn immer tiefer in die Geheimnisse seines Wesens verstrickte. Er genoss es, eine zehn Meter lange Anakonda zu beobachten, wie sie im Wasser einen Alligator umschlang, oder die Pirañhas dabei zu verfolgen, wie sie einem verletzten Tapir das Fleisch von den Knochen rissen. Es war keine Gegend für ängstliche Menschen. Für sie war der Amazonas eine grüne Hölle, für Jakob jedoch ein Paradies.
Denn weder Pirañhas noch Anakondas, noch ein anderes Ungeheuer der grünen Hölle waren die größte Gefahr, die den
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