EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller
alle auseinanderhalten konnten, und behauptete immer, dass wir schummelten, weißt du noch? Und dann hast du dich wie ein Hahn vor ihm aufgeplustert, deine Hände in die Hüften gestemmt und gesagt: Wahrheit ist, was man glaubt und mit Überzeugung vertritt! Er hat dich belustigt angeschaut, und wir haben vor Lachen fast in die Hosen gepinkelt.“
Sie schaute auf den Monitor, auf dem deutliche Ausschläge zu sehen waren. Tatsächlich: Anna schien sie zu hören!
„Und wenn wir nicht im Wald oder im Hühnerstall waren, zeigte er uns, wie man Gemüse anpflanzt, Kartoffeln setzt und Vogelscheuchen baut. Und er konnte wunderbare Geschichten aus Rumänien erzählen. Erinnerst du dich an den Friseur, der gleichzeitig Kneipier war? Zuerst kamst du auf den Friseurhocker, und anschließend wurde die Glatze deines Großvaters mit Öl poliert. Deinen Haarschnitt musste der Großvater danach in der Kneipe mit diversen Schnäpsen verdauen. Du hast damals schrecklich ausgesehen.“ Sie warf einen erneuten Blick auf den Monitor und sah Anna erstaunt an. „Es ist schön, dass du mich hören kannst. Ich bin mir ganz sicher, dass du wieder aufwachen wirst.“ Sie lächelte. „Ich habe dich immer beschützen wollen. Damals, als die Lehrerin dir mit dem Stock drohte, weil du immer frecher wurdest, habe ich mich schützend vor dich gestellt. Und nun liegst du hier. Wann wachst du endlich auf, Anna? Wir alle vermissen dich doch so sehr.“
Erschrocken fuhr sie hoch, als sie eine Hand spürte, die sanft ihre Schulter berührte. Erstaunt drehte sie sich um.
„Die Ausschläge der Hirnströme sind immens. Das sind nicht nur Reflexe. Ihre Freundin reagiert auch auf visuelle Reize“, sagte die Krankenschwester freundlich. „Warum gehen Sie nicht in die Kantine und trinken einen Kaffee, Frau Demirtas? Sie sitzen jeden Tag an Frau Wendels Bett, und heute sogar seit mehr als zwei Stunden. Denken Sie auch mal an sich. Sie können im Moment nichts für Ihre Freundin tun. Außerdem werden Sie erwartet.“
Mathilda nahm ein Taschentuch aus ihrem Kittel und wischte die Schweißperlen von Annas Stirn. „Ob sie mich wirklich hört, wenn ich ihr Geschichten erzähle?“
„Sie kann Sie hören. Der Monitor ist der beste Beweis. Und eines Tages wird sie wieder aufwachen. Machen Sie sich keine Sorgen.“
„Weshalb sind Sie sich so sicher?“
„Das sagt mir meine langjährige Erfahrung im Umgang mit Komapatienten“, erwiderte die Schwester mit einem sanften Lächeln. „Und ich irre mich selten. Jetzt gehen Sie, machen Sie eine Pause. Sie werden am Eingang der Intensivstation erwartet.“
Mathilda runzelte die Stirn. Nur ihre Familie wusste, dass sie Anna täglich besuchte. Noch einmal warf sie einen Blick auf die Patientin und streichelte ihr Gesicht. „Ich komme gleich wieder.“
***
Sie war nicht schön, nicht im klassischen Sinn, dachte Benedikt van Cleef, als Mathilda durch die Glastür den Krankenhausflur betrat und auf ihn zukam. Sie war atemberaubend . Ihr Haar war von einem leuchtenden Tizianrot, wie loderndes Feuer, ein Flammenmeer, das sich in wilden Locken über ihre Schultern ergoss. Ihr Gesicht war rundlich, die Nase schmal. Sie hatte hohe, flache Wangen und ein sich verjüngendes Kinn. Ihre Augen ruhten unter schweren Lidern, ihr breiter Mund war rostrot geschminkt.
Sie war zierlich, fast zerbrechlich gebaut und trug eine knapp sitzende klatschmohnrote Hemdbluse, die ihre schlanken Arme und die festen Rundungen ihrer Brüste gut zur Geltung brachte. Ihre Haut war hell, und ihre Augen erinnerten ihn an das gesprenkelte Grün einer Sommerwiese.
Als sie auf ihn zukam, verzogen sich ihre rostroten Lippen zu einem kleinen, fragenden Lächeln, und dann blieb sie so nah vor ihm stehen, dass Benedikt das winzige Muttermal sehen konnte, das direkt über der rechten Oberlippe saß. Nah genug auch, um den Duft einer blühenden Frühlingswiese einzufangen und langsam darin zu ertrinken.
„Ihre Mutter sagte mir, dass ich Sie hier finde. Mein Name ist Benedikt van Cleef. Mordkommission München. Wir hatten bereits kurz miteinander zu tun, direkt nach dem Mordanschlag“, sagte er freundlich und reichte ihr die Hand.
Mathilda musterte ihn von Kopf bis Fuß.
„Ich würde mich gern noch einmal mit Ihnen über Ihre Freundin Anna Wendel unterhalten.“
Sie nickte.
„Die Schwester war so nett, uns einen Kaffee zu bringen. Sie sagte, er würde Ihnen guttun. Setzen Sie sich doch, bitte.“
Als er ihr den Kaffee reichte und neben ihr
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