EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller
forderte eine Stimme sie auf, sich umzuziehen.
Mathilda tauschte ihre Kleidung gegen einen sterilen dunkelblauen Kittel, stülpte die Einwegschuhe über ihre Stiefel und fragte sich, was sie wohl heute hinter dieser Tür erwartete. Sie atmete tief ein und drückte auf den Schalter an der Wand. Daraufhin öffnete sich eine zweite Glastür.
Sie schritt an einer großen Fensterfront vorbei, hinter der die abgedunkelten Räume mit den Intensivpatienten lagen. Seit Tagen wartete sie auf eine positive Veränderung von Annas Zustand.
Seufzend öffnete sie die Tür, auf der in dunkelblauen Druckbuchstaben das Wort vier stand, und betrat das Zimmer.
Anna lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken, die Arme flach auf der Bettdecke. An ihrem Brustkorb und an den Armen waren Schläuche befestigt, die mit diversen Infusionsbehältern verbunden waren. Neben dem Bett standen auf einer Konsole der Elektrokardiograph und der Pulsoximeter.
Eine Krankenschwester, die gerade eine Infusion vorbereitete, begrüßte sie freundlich und sagte: „Ihr Zustand hat sich Gott sei Dank stabilisiert, Frau Demirtas.“
Mathilda lächelte und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. Anna lag seit Tagen im Wachkoma.
Sie nahm ihre Hand und streichelte sie. „Wie geht es dir heute, Anna?“
In den vergangenen Tagen hatte Dr. Kreiler ihr immer wieder Hoffnungen gemacht.
„Sie wird es schaffen. Der Hirnstamm reguliert die lebenswichtigen Grundaufgaben des Körpers wie die Atmung, das Schlucken und den Kreislauf, und das Mittelhirn leitet die Informationen aus dem Rückenmark an das Großhirn weiter“, hatte er erklärt. „Dort liegt der Sitz unseres Bewusstseins. Es verarbeitet alle Sinneseindrücke zu einer Gesamtwahrnehmung. Beim Wachkoma ist in der Regel die Informationsübertragung des Mittelhirns gestört. Ich glaube allerdings, dass bei Anna kein echtes Wachkoma vorliegt, sondern eine weniger tiefe Form der Bewusstseinsstörung aufgrund des vorangegangenen Schocks.“
„Wann wird sie denn wieder zu sich kommen?“, hatte sie ihn gefragt.
„Ich weiß es nicht. Niemand weiß, wann sie aus den tiefen Abgründen des Bewusstseins wieder auftaucht. Zwischen Leben und Tod gibt es viele Bewusstseinsstufen.“
„Wenn sie aufwacht, wird sie dann wieder … normal sein?“
„Ich glaube schon. Seien Sie unbesorgt. Wachkomapatienten haben eine normale Lebenserwartung. Erzählen Sie Ihrer Freundin von Ihrem Alltag, sprechen Sie über gemeinsame Erlebnisse. Achten Sie dabei auf den Monitor. Wir überprüfen nämlich, inwieweit ihre Sinneskanäle im Gehirn offen sind.“
„Was bedeutet das?“
„Wir bedienen uns der Hirnstrommessung. Sobald die Impulse ausschlagen, können wir uns einen Eindruck über ihre haptischen Qualitäten machen. Und nach unseren Beobachtungen ist durchaus ein relevanter ansteigender Verlauf der Reaktionsphase festzustellen.“
Seitdem sprach Mathilda jeden Tag mit Anna, las aus ihrem Lieblingsbuch vor oder erzählte ihr von ihrem Alltag. Zwischendurch warf sie immer einen Seitenblick auf die Monitore in der Hoffnung auf spontane Ausschläge. Im Laufe der Zeit kamen ihr die Wellen wie die Notenlinien von Annas Seelenpartitur vor. Was hätte sie darum gegeben, wenn sie sie hätte lesen können!
Mathilda lächelte in sich hinein. Den Tag ihrer ersten Begegnung würde sie niemals vergessen. Sie hatte auf dem Schulhof der Grundschule stattgefunden, wo Anna sie mit ihrer eigentümlich sanften Stimme schüchtern nach dem Weg zum Klassenraum gefragt hatte. Diese Stimme war ihr sofort vertraut erschienen, denn sie hatte – wie ihre eigene – einen leicht nordischen Akzent. Auf den ersten Blick wirkte Anna zerbrechlich, weil sie so dünn und blass war. Aber sie war alles andere als zerbrechlich. Sie wusste immer, was sie wollte, war wissbegierig und besaß einen eisernen Willen.
„Damals, als ich noch pummelig war und du eine Achtdioptrienbrille trugst, sind wir manchmal an den Wochenenden mit deinem Großvater in den Hühnerstall gegangen, wo wir die kleinen Küken unter der Wärmelampe bewachten. Dein Großvater bekam regelmäßig eine Lieferung Küken, die er zu Legehennen aufpäppelte. Wir gaben ihnen Namen und konnten sie zu seinem Erstaunen sogar auseinanderhalten. Wenigstens taten wir so. Es brach uns jedes Mal das Herz, wenn wir uns von Mini, Betsy, Coco und Charly verabschieden mussten, weil ihnen bestimmt war, als Suppenhühner auf dem Wochenmarkt zu enden. Dein Großvater glaubte uns nicht, dass wir sie
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