Eiskalte Verfuehrung
Hand war. Ja, das war ein bisschen besser.
Hin und wieder warf Lolly einen Blick auf den Mann, der sie da durch die Finsternis führte; wegen der Dunkelheit konnte sie kaum mehr als seine Größe und seine breiten Schultern ausmachen – das und die Entschlossenheit, mit der er dem Sturm die Stirn bot. Sie erinnerte sich, wie er ausgesehen hatte, als er an ihrem Fenster aufgetaucht war. Er war älter geworden, das war offensichtlich; aber sie auch. Viele Jahre waren vergangen, seit er mit dem Examen in der Tasche von der Highschool abgegangen war – fünfzehn! Und sie hatten sich beide verändert.
Er war kein vorlauter Teenager mehr, dem die Welt zu Füßen lag; er war ein erwachsener Mann, ein Witwer mit einem Sohn, wie sie bei einem ihrer Ausflüge nach Wilson Creek gehört hatte. Vater zu werden und die Frau zu verlieren waren Ereignisse, die das Leben veränderten. Er konnte niemals mehr der gleiche Mensch sein wie damals in der Schule. Sie auch nicht, und sie hatte kein so traumatisches Erlebnis wie den Verlust des Ehegatten durchstehen müssen. In ihrem Leben gab es gar nichts Traumatisches. Sie hatte in aller Stille ihren Weg gemacht, sich etabliert und viel von ihrer Unsicherheit und ihrer Schüchternheit abgelegt.
Sie und er hatten sich die Köpfe eingeschlagen, so lange sie denken konnte, aber sie wusste nicht mehr so recht, warum. Kam das, weil sie immer so fürchterlich verliebt in ihn gewesen war und nie erwartet hatte, dass er sie irgendwie mögen würde? Hatte sie deshalb so einen Schutzschild aus Feindseligkeit aufgebaut? Teenager waren eine wirre Mischung aus Angst und Gefühl, da war alles möglich. Rückblickend amüsierte Lolly sich fast ein bisschen über ihre Psyche als Teenager – und über seine.
Wenn es je einen Zeitpunkt geben würde, um die Vergangenheit zu überwinden, dann sicher jetzt. Sie neigte sich ihm leicht zu und rief gegen Regen und Wind an: »Danke.«
»Bedank dich bei mir, wenn diese beiden Irren uns nicht erwischen und wir den Berg unten sind, bevor die Bäume umstürzen«, erwiderte er, ohne sie anzusehen.
Nun gut, das klang ein bisschen barsch, aber dann tat sie etwas, wozu sie fünfzehn Jahre zuvor nie und nimmer in der Lage gewesen wäre: Sie zuckte mental mit den Achseln und ließ es damit gut sein. Unter den Umständen, in denen sie sich befanden, verzieh sie ihm seine Reizbarkeit.
Sie marschierten jetzt direkt gegen den Wind, was ihr eine gewisse Orientierung gab. Lolly schaute auf, allerdings nicht lange. Kleine Eiskugeln prasselten ihr ins Gesicht, und der Wind raubte ihr den Atem, so kalt war er. Er kam von Norden, und wenn er jetzt von vorn kam, bedeutete das, sie waren auf dem langen Abhang vor der scharfen Kurve, die in Richtung Südosten führte.
Sie waren gar nicht so weit weg vom Haus.
Etwas Zeit bleibt uns noch, oder? Hoffentlich. Wie lange werden die abgestorbenen Bäume diesem Sturm und dem Eis noch trotzen können?, fragte Lolly sich. Die dürren und morschen Äste würden als Erstes brechen. Viele waren bereits heruntergebrochen – teilweise bei anderen Stürmen; man hatte sie einfach liegen gelassen. Sie vermittelten ihr nun eine Vorstellung davon, was auf sie zukam.
Der Wind stob auf, und die Bäume knarrten, als würde die Materie gleichsam aufstöhnen. Lolly erschauderte. Sie hatten nur eine Alternative – und die war nicht gut. Darwin und Niki waren hinter ihnen her, und der Boden unter ihren Füßen wurde immer glatter. Sie wussten nicht, wohin und konnten lediglich weitergehen, in Richtung Sicherheit, die so weit weg zu sein schien.
Sie rutschte aus, ihre Halbschuhe gaben ihr keinerlei Halt. Die Vaseline half ganz eindeutig, aber langsam drang die Feuchtigkeit nun doch in ihre Schuhe und Socken, und ihre Füße schmerzten, so taub waren sie. Lolly war in Maine aufgewachsen; sie kannte die Gefahr von Erfrierungen. Sie wusste, wie diese Nacht aller Wahrscheinlichkeit nach ausgehen würde, und ein Gefühl von Fatalismus bemächtigte sich ihrer. Besser die Zehen verlieren, als noch einmal Darwin in die Hände zu fallen.
Sie zog die Ärmel ihres Flanellhemds zurecht, das sie sich um den Kopf gebunden hatte, schob sie sich über Nase und Mund, doch die Ärmel waren nass und eisig, und sie wusste nicht, ob das viel bringen würde. Zum Glück war Gabriel da, wie ein Fels in der Brandung, er marschierte mit der Entschlossenheit eines Pitbulls weiter. Sein Griff war fest, ein Trost in einer eindeutig widrigen Welt. Er war die Art Mann, nahm sie
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