Eiskalte Verfuehrung
zwang sich, auf den Beinen zu bleiben. »Das nehme ich dir nicht ab.« Sie schaffte es sogar, ein glaubwürdiges Schnauben von sich zu geben.
»Im Ernst, Lollipop, meinst du, ich wäre froh, mit meinem Sohn in einem schönen warmen Haus zu sitzen, eine Suppe zu essen und am Kamin Kaffee zu trinken, wenn ich mich mit dir hier oben zu Tode frieren kann, während wir vor zwei durchgeknallten Meth-Süchtigen davonrennen? Was ist mit deiner Abenteuerlust?«
»Die habe ich nie gehabt«, sagte sie und lachte plötzlich schallend – fast hysterisch. Sie war wackelig auf den Beinen, und sie wusste nicht recht, wie lange sie sich noch aufrecht halten konnte, aber was er da soeben von sich gegeben hatte, war das Witzigste, was sie je gehört hatte. »Und sag nicht Lollipop zu mir.« Wenn er schon alles über sie vergessen hatte, warum nicht diesen dämlichen Spitznamen?
»Lollipop«, erwiderte er prompt, wie schon damals in der Highschool. Er richtete sich auf, keuchte ob der Anstrengung und fügte hinzu: »Wir sind ganz schön blöd, hier draußen herumzustehen. Gehen wir rein.«
»Leichter gesagt als getan«, erwiderte sie, und da gaben plötzlich ihre Beine nach, und sie stürzte zu Boden.
»Verdammt, jetzt lass mich bloß nicht im letzten Moment im Stich, Lollipop«, knurrte er, als er in Richtung Tür schwankte. »Ich hab dich nicht den ganzen Weg hier heraufgezerrt, damit du mir jetzt auf der Veranda erfrierst.«
Es machte ihr Angst, dass diese Überlegung gar nicht so weit hergeholt war. Es wäre so simpel, sich einfach auf der Veranda zusammenzurollen und zu entspannen, aber sie wusste, wenn sie das tat, würde sie es nie mehr bis ins Haus hineinschaffen. Furcht veranlasste sie, auf alle viere zu gehen, aber das war es auch schon: Weiter kam sie nicht; sie konnte nicht aufstehen. Sie begann, in Richtung Tür zu kriechen.
»Schau, dass du die Tür aufkriegst, Rambo«, keuchte sie, »dann schaffe ich das letzte Stück auch noch.«
Am Waldrand ertönte ein schrecklicher Knall wie ein Gewehrschuss, und ein zwei Meter hoher Baum knickte unten am Stamm ab; er krachte mit einer solchen Wucht zu Boden, dass die Welt erschüttert zu werden schien. Sie beide erstarrten eine Sekunde, dann fingerte Gabriel wieder am Türknauf herum, und Lolly kroch unbeholfen langsam weiter.
Sie hätte diese Nacht nie überlebt, wenn Gabriel nicht gewesen wäre. Sie wäre schon tot, erschossen oder erfroren oder von einem eisbedeckten Baum erschlagen. Sie wäre eines gewaltsamen Todes gestorben, hätte ihre letzten paar Stunden in panischer Angst und mit Schmerzen verbracht – mit den letzten Gedanken an diesen schrecklichen Mann, der versucht hatte, sie zu vergewaltigen, und es fast auch geschafft hätte. Doch kaum war die Gefahr vorbei, da fingen sie beide auch schon an, sich zu kabbeln. Es war nicht zu glauben. Manche Dinge änderten sich nie. Das Gefühl , wenn sie sich zankten, hatte sich allerdings sehr wohl verändert. Sie war nicht verärgert, nicht beunruhigt. Sich mit Gabriel zu streiten hatte etwas Angenehmes – fast wie heimkommen.
Heim. Sie war jetzt wirklich daheim. Sie musste nur noch ins Haus hineingehen, dann war sie in Sicherheit. Sie zitterte nicht mehr, schon seit … Ja, wie lange eigentlich schon nicht mehr? Da sie in Maine geboren war, wusste Lolly, dass das kein gutes Zeichen war. Sie konnte noch denken, litt nicht an Desorientierung, die oft mit einer schlimmen Unterkühlung einherging, und so dachte sie, es sei alles in Ordnung mit ihr. Aber dennoch: Wenn ihr Denkvermögen beeinträchtigt wäre, würde sie das überhaupt bemerken?
Gabriel versuchte, die Tür zu öffnen, konnte mit seinen vereisten Handschuhen jedoch den Türgriff nicht fassen. Er fluchte still vor sich hin, zog sich mit den Zähnen den Handschuh herunter. Der Türknauf drehte sich, und die Tür schwang auf zu einem Hort der Wärme und Geborgenheit. Er wandte sich um, packte Lolly am Arm und zerrte sie über die Schwelle so weit ins Haus, dass er die Tür wieder zuschieben konnte. Lolly ließ sich seitlich auf den Boden fallen, und auch seine Beine hatten keine Kraft mehr, er fiel neben ihr nieder. Er fluchte noch mehr, rappelte sich auf Hände und Knie, dann umfasste er den Treppenpfosten und zog sich hoch, bis er halbwegs zum Stehen kam. Lolly schloss die Augen. Sie wollte einfach nur hier auf dem Boden liegen bleiben …
»Steh auf«, sagte Gabriel mit barschem Befehlston.
Sie öffnete einen Spalt die Augenlider. »Ich will nicht
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