Eiskalte Verfuehrung
setzte jedoch ihr Überlebenstrieb ein. Es fiel ihr schwer, ihre Gedanken zu ordnen, aber sie war wild entschlossen, sie auf die Reihe zu kriegen. Im Wagen konnte sie jedenfalls nicht bleiben. Sobald die Autobatterie leer war, wäre es mit dem letzten bisschen Licht vorbei, das ihr jetzt noch blieb. Sie würde sich zu Tode frieren, wenn sie nicht vorher verblutete. Noch einmal betastete sie behutsam ihren Kopf. Die Schnittwunde blutete, war aber gar nicht so groß. Verflucht, sie war am Leben, und irgendwelche Körperteile schienen ihr auch nicht zu fehlen, sie war also noch einmal davongekommen.
Niki lauschte und fragte sich, ob die Schlampe sich mit ihrem Typen schon vom Berg hinunterkämpfte, um nach ihr zu suchen, ihr zu Hilfe zu kommen … Doch es waren keine Stimmen zu hören. Nichts bis auf den Wind, das Eis und das Knacken der Bäume. Das war es auch schon. Diese Miststücke ließen sie einfach hier, bis sie verreckte. Was waren das für Menschen, die so etwas machten?
Sie starrte auf den Ast, der sich durch die Windschutzscheibe gebohrt hatte, stellte sich vor, was passiert wäre, wenn er nur ein paar Zentimeter weiter links durchgestoßen wäre, und erschauderte.
Das Seitenfenster auf der Fahrerseite war auch herausgebrochen, und Niki wandte den Kopf in diese Richtung, als sie versuchte, sich zu orientieren. Ein Großteil des Lichts von dem verbliebenen Scheinwerfer wurde abgeschnitten – vielleicht durch die Stoßstange? Aber ein bisschen drang durch, um ihr zu zeigen, wo sie sich befand.
Am Abhang eines Scheißbergs, aufgegabelt von einem alten, schwer beschädigten vereisten Baum. Wenn der Baum nachgab, wenn er umknickte und den Weg freigab, dann würde der Blazer weiter in die Tiefe stürzen. Sie bezweifelte, ob sie das nächste Mal wieder solches Glück hätte und ein Hindernis das, was von ihrem Auto noch übrig war, aufhalten würde.
Niki zog am Türgriff und drückte. Als nichts passierte, drückte sie noch einmal mit all ihrer verbliebenen Kraft, um die Tür aufzustemmen. Der Blazer knarrte und schaukelte, und sie hielt einen Moment inne. Ärger wallte in ihr auf und ließ sie ihren physischen Schmerz vergessen. Alles, was bis jetzt passiert war – der Sturm, Darwins Tod, dass der Blazer ein Schrotthaufen war, ihre Verletzungen, ja sogar die Tatsache, dass diese verdammte Tür klemmte –, war die Schuld von Lorelei Helton. Diese Schlampe! Was sie da angerichtet hatte! Wenn sie geblieben wäre, wo man ihr gesagt hatte, wäre gar nichts von alldem passiert.
Wo war nur ihre Taschenlampe? Hatte sie sie wirklich verloren? Sie tastete danach, konnte sie jedoch nicht finden, und Zeit, um groß danach zu suchen, hatte sie nicht. Vom Blazer kam gerade noch so viel Licht, um ihr den Weg zu weisen. Sie kam zu dem Schluss, dass die Tür sich nicht öffnen lassen würde, und kroch durch das kaputte Fenster – ganz vorsichtig, um den Wagen nicht zu erschüttern. Als sie es hinaus in den eiskalten Wind geschafft hatte, kam sie zu dem Schluss, dass das Fahrzeug recht solide am Baum festsaß.
Der Abhang war so steil, dass Niki nicht aufrecht stehen konnte. Sie hielt sich an dem zerbeulten Auto fest, und sah an sich hinunter. Sie war dem Wrack nicht ohne Blessuren entkommen. Sie blutete am Kopf, im rechten Hosenbein ihrer Jeans war ein Riss, aus dem Blut sickerte, und ihre Schulter schmerzte. Als sie zum Rand des Abhangs hinaufschaute, hatte sie dann doch das Gefühl, verdammtes Glück gehabt zu haben, und sie wusste, dass es einen Grund geben musste, weshalb sie überlebt hatte.
Sie hatte überlebt, damit sie sich an den Menschen rächen konnte, die ihr und Darwin Unrecht getan hatten.
Sie hatte überlebt, damit sie tun konnte, was richtig war.
Da alles völlig vereist war, würde sie nur auf allen vieren den Berg hinaufkommen – und genau das machte sie dann auch. Mit jedem Zentimeter, den sie zurücklegte, wurde sie sich ihrer Aufgabe immer klarer. Sie würde nicht davonlaufen. Sie würde sich kein warmes Plätzchen suchen und sich bis zum nächsten Morgen dort verkriechen. Sie würde Lorelei Helton umbringen und den Mann, der Darwin ermordet hatte, auch. Das war gerecht, ganz schlicht und ergreifend gerecht.
»Wie viele Klamotten hast du denn an, verdammt?«, knurrte Gabriel und zog am nächsten Shirt.
»Genügend!«, sagte sie und gab ihm einen Klaps auf die Hände. »Lass das! Ich kann mir meine Sachen selbst ausziehen!«
»Dann tu das auch!«
Tragen konnte er sie nicht, aber er konnte sie
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