Eiskalte Versuche
… es geht um jemanden, den du nicht kennst. Er hieß John Running Horse und …“
„Ich kenne ihn“, sagte Jack. „Ich habe erst vor wenigen Tagen mit ihm gesprochen. Er sprach davon, dass er sich eine Gitarre besorgen und nach Nashville – oder war es Memphis? – gehen wollte. Und er erwähnte seine Mutter.“
„Ja, das war er“, entgegnete sie. „Er ist tot.“
„Was ist geschehen?“
„Er war per Anhalter unterwegs … zumindest vermutet man das … und dabei wurde er von einem Auto angefahren.“ Sie seufzte. „Er war wohl endlich nach Memphis unterwegs.“
„Schlimm“, sagte Jack. „Zumindest wird er jetzt bei seiner Mutter sein. Die Frau im Drugstore sagte mir, sie sei schon vor Jahren gestorben.“
Isabella nickte. „Es ist so traurig. Manchmal frage ich mich, warum manche Menschen heil und gesund auf die Welt kommen, und anderen fehlt etwas Wichtiges, um ganz zu sein.“
„War er ein Freund von dir?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Er wusste nicht, wie man Freundschaften schließt“, sagte sie leise. „Aber ich habe ihn gut gekannt. Es tut mir so Leid, dass er tot ist.“
Jack schloss sie in die Arme. Er machte sich Sorgen um sie. In letzter Zeit war sie oft mit dem Tod konfrontiert worden, und er fürchtete, dass ihr das Schlimmste noch bevorstand.
Das Haltesignal des Aufzugs ertönte, und gleich darauf glitten die Türen geräuschvoll zur Seite. David trat aus der Kabine. Als er Jack und Isabella zusammen sah, wollte er sich abwenden. Isabella winkte ihn herbei.
„Onkel David … gerade habe ich eine sehr traurige Nachricht erhalten.“
„Was denn?“ fragte David.
„John Running Horse ist tot“
Davids Gesichtsausdruck erstarrte, und Jack hätte schwören können, gehört zu haben, wie der alte Mann missmutig brummte.
„Wie ist das passiert?“
„Er war per Anhalter unterwegs und wurde von einem Auto angefahren. Man vermutet, dass er tatsächlich nach Memphis unterwegs war. Die Frau, die mich angerufen hat, sagte, er sei schon fast in Butte gewesen, als der Unfall geschah.“
„Oh Gott“, murmelte David. „Was für eine Verschwendung … was für eine Verschwendung.“
Sie machte sich von Jack los und schlang ihrem Onkel einen Arm um den Nacken. Mit der anderen Hand tätschelte sie sein Gesicht.
„Wir gehen für eine Weile auf die Terrasse. Möchtest du mitkommen?“
„Nein. Ihr braucht keinen Aufpasser. Genießt die Zeit, die ihr habt. Das Leben ist viel zu kurz.“
Isabella nickte und warf einen Seitenblick auf Jack. Er schob seine Hand unter ihren Ellenbogen und führte sie durch den Speisesaal nach draußen.
David sah ihnen kurz nach. Dann wandte er sich ab. Er musste die anderen suchen und ihnen die Nachricht überbringen.
Wasili Rostow stand an der Kante einer Steilwand, hielt seinen Feldstecher in der Hand und suchte das Tal unter sich ab. Beim Hotel tat sich etwas. Er hatte nicht den Eindruck, dass die Betriebsamkeit mit der Ankunft neuer Gäste zusammenhing.
Auf dem Parkplatz standen vier Fahrzeuge mit Vierradantrieb und zwei große graue Lieferwagen. Mindestens ein Dutzend Männer liefen geschäftig auf dem Gelände umher. Alle trugen Kampfanzüge der Armee. Sogar aus der Entfernung konnte Rostow erkennen, dass die Männer bewaffnet waren. Sich selbst verfluchend, dass er sich überhaupt auf diesen Schlamassel eingelassen hatte, beobachtete er, wie die Männer ihre Ausrüstung einluden und die Fahrzeugkolonne in Richtung White Mountain aufbrach. Kurze Zeit später waren die Wagen aus seinem Blickfeld verschwunden. Rostow wusste auch so, wie der Einsatz weiterging. Die Männer würden sich in kleine Gruppen aufteilen und nach ihm suchen. Bevor das geschah, war er besser verschwunden.
Er vergeudete keine Zeit. Kurz entschlossen nahm er sein Gepäck und machte sich bergabwärts auf den Weg, sich immer links haltend, um möglichst viel Abstand zu der Stelle zu gewinnen, von der aus er die Männer zuletzt gesehen hatte. Beim Gehen überdachte er seine Möglichkeiten. Er konnte die Sache aufgeben, nach Russland zurückkehren und die Folgen seines Scheiterns auf sich nehmen. Aber der Gedanke, die Jahre, die ihm blieben, in Ungnade zu verbringen, schreckte ihn ab. Er hatte seinem Land immer treu gedient und sogar das hart erarbeitete Dasein als Pensionär aufgegeben, um einen letzten Auftrag für Mütterchen Russland zu erledigen. Den Rest seines Lebens würde er nicht auch noch opfern, nur weil ein alter Mann zur falschen Zeit gestorben
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