Eiskalter Sommer
Ihr Verstand musste sie im Stich gelassen haben. Marie seufzte. Immerhin ist er kein Kollege . Und gegen ein harmloses Glas Frascati zum Rucola e Pomodorini bei Giancarlo war schließlich nichts einzuwenden.
*
Nachdem er alle Unterlagen über den toten Betriebsratsvorsitzenden vernichtet hatte, vertiefte er sich in das Dossier über den Koch. Evers hatte es ihm leicht gemacht. Seine Lebensumstände, seine Gewohnheiten und seinen Arbeitsalltag auszuforschen war ein Kinderspiel gewesen. Mit der Tätigkeit bei der Firma CuxFrisch hatte er ihm eine Todesart auf dem Silbertablett serviert, die in jeder Hinsicht angemessen war. Der Gefahr, dass unfähige Kriminalpolizisten sein Werk als Unfall missverstehen würden, war er durch hinreichend deutliche Spuren begegnet. Nun war zu hoffen, dass der Koch intelligent genug war, die Bedrohung zu erkennen. Sollte der Mann so unbedarft sein, Evers’ gewaltsames Ende nicht auf sich zu beziehen, würde er ein wenig nachhelfen müssen. Denn die Angst des Opfers, auf die er im ersten Fall hatte verzichten müssen, war gewissermaßen die Vollendung seines Kunstwerks – wie das Sahnehäubchen auf einer gelungenen Tortenkreation. Angesichts des Berufes dieses Mannes ein recht passendes Bild.
Ein kaum wahrnehmbares Lächeln umspielte seinen Mund, als er das Foto hervorzog und zum Licht drehte. Köche waren zahlreichen Gefahren ausgesetzt. Darunter gab es eine, die zwar nicht die Nächstliegende war, aber seinen Vorstellungen in besonderer Weise entsprach. Dafür hatte Evers ihm unwissentlich auch gleich das passende Instrument geliefert.
8
Wenn Jensen im Stress war, wurde er laut. Und Jensen war im Stress. Wegen der Hitze, wegen der Arbeit und wegen der Gäste. Viel zu tun gab es in der Hauptsaison immer. Heiß war es in der Küche auch fast immer. Und nervig waren die Gäste sowieso immer. Aber in diesen Sommertagen spielten sie völlig verrückt. Liegen trotz der Hitze den ganzen Tag am Strand in der Sonne, essen nichts, und wollen sich abends den Wanst vollschlagen. Und alle möglichst zur selben Zeit.
Das Restaurant war ausgebucht, jeder Gast erhob Anspruch auf perfekte Bedienung und höchste Qualität bei allen Speisen. Die Karte war wie immer zu umfangreich, weil man wieder nicht auf ihn hatten hören wollen. Als Inhaber des Cap Cux waren Isabelle und Enno Wilckens darauf bedacht, ihren Gästen nicht nur Spitzenküche, sondern auch eine breit gefächerte kulinarisches Auswahl zu bieten. Ein Anspruch, der das Personal der Restaurantküche an die Grenzen des Machbaren brachte. Und die Verantwortung blieb an ihm hängen. „Wenn wir die Karte etwas weniger umfangreich machen“, sagte er jedes Mal zu Beginn der Saison, „können wir leichter bessere Qualität liefern.“
„Mit Ihnen als Chef de Cuisine schaffen wir das auch so, mein lieber Jensen“, lautete stets die Antwort der Chefin. „Unsere Gäste schätzen nun mal die Auswahl.“ Dabei legte sie ihre gepflegte Hand auf Jensens Unterarm und lächelte so herzlich und gewinnend, dass er immer wieder nachgab.
In dieser Zeit durfte niemand ausfallen oder schlappmachen. Jensen verlangte vollen Einsatz von jedem, ließ keine Ausflüchte zu und dirigierte die Mannschaft mit kurzen und vor allem sehr lautstarken Kommandos. Wenn es in den Töpfen brodelte und in den Pfannen zischte, wenn Gasflammen fauchten und Küchenmaschinen rumorten, Geschirr klapperte und Besteck klirrte, während die Kellner ihre Bestellungen in den Raum riefen und „Gardemanger“ und „Entremetier“ ebenso wie „Rôtisseur“ und „Poissonnier“ Befehle an ihre „Commis“ weitergaben, entstand ein Geräuschpegel, der übertönt werden musste. Hörfehler führten leicht zu einer Katastrophe, darum durfte niemand seine Stimme so weit erheben wie der Küchenchef. Wenn er gegen Mitternacht das Cap Cux verließ, spürte er die Arbeit des Tages in allen Knochen. Und wie jedes Jahr in der Hauptsaison sagte er sich, dass er diesen Stress nicht mehr lange mitmachen würde.
Trotz der Müdigkeit, die sich in ihm breitmachen wollte, nahm Jensen bei sommerlichen Temperaturen stets einen Umweg über den Strand. Und wenn die Flut das Wasser nahe genug gebracht hatte, ließ er Hemd und Hose an einem Strandkorb zurück und stürzte sich ins erfrischende Nass. Mit der Abkühlung beruhigte sich sein Herzschlag, und die Last des Tages fiel von ihm ab.
Vor ein paar Stunden hatte jedoch eine andere Anspannung von ihm Besitz ergriffen. Im Radio hatte er von dem
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