Eiskalter Sommer
Unfalltod des Betriebsratsvorsitzenden gehört, und seitdem beschlich ihn immer wieder das Gefühl, dass es vielleicht kein Unfall gewesen sein könnte, der das Leben seines ehemaligen Kameraden beendet hatte.
Und jedes Mal fragte er sich, ob er versuchen sollte, den Abgeordneten zu erreichen. Seit damals hatte er ihn nicht mehr getroffen. Nur hin und wieder sein Bild in der Zeitung oder im regionalen Fernsehprogramm gesehen. War es an der Zeit, sich mit ihm zu treffen und zu beraten? Andererseits gab es vielleicht gar keinen Grund zur Beunruhigung. Weil Evers wirklich durch einen Unfall ums Leben gekommen war. Oder weil ihn jemand umgebracht hatte, der überhaupt nichts von ihnen wusste. Und wenn er versuchte, den Abgeordneten zu erreichen, würde man ihn möglicherweise gar nicht zu ihm lassen. Er hatte noch nie mit einem Landtagsabgeordneten gesprochen und keine Vorstellung, wie man mit solchen Leuten umging.
Wahrscheinlich bilde ich mir sowieso alles nur ein. Und mache mich nur verrückt. Es kann doch nicht sein, dass ein erwachsener Mann sich von Hirngespinsten in Angst und Schrecken versetzen lässt. Energisch schüttelte Jensen die beklemmenden Gedanken ab und kraulte kraftvoll durch die sanfte Dünung der Nordsee.
Nachdem er aus dem Wasser zurückgekehrt war, ließ er sich im Sand nieder, um die Haut an der noch immer warmen Luft trocknen zu lassen. Obwohl der Nachthimmel frei von Wolken war, hatten sich Luft und Boden kaum abgekühlt. Unter den glitzernden Sternen lag das Meer nahezu bewegungslos, und Jensen fühlte sich für einen Augenblick an die Küste eines südlichen Landes versetzt. Aber während dort winzige Fischerboote auf dem Wasser schaukelten, zogen in der Fahrrinne hinter der Kugelbake riesige Containerschiffe entlang. Zwischen den spärlich beleuchteten Frachtern tauchte ein Kreuzfahrtschiff mit unzähligen Lichtern auf, man glaubte, eine schwimmende Stadt zu sehen.
Jensen dachte an seine Kollegen, die dort um diese Zeit noch immer in der Kombüse schufteten. Dort ging es ähnlich zu wie in der Küche des Cap Cux, nur dass sie dort keine Gelegenheit hatten, nach der Arbeit im lauen Meer zu baden oder am Strand zu liegen. Er sah der schwimmenden Unterhaltungsmaschine nach, die sich deutlich schneller bewegte als die Containerschiffe, bis sie nur noch als heller Punkt über dem Horizont zu erkennen war.
Als Jensen sich aufrichten wollte, explodierte etwas an seinem Hinterkopf. Bevor er sich darüber wundern konnte, verlor er das Bewusstsein.
Als er zu sich kam, fragte er sich, ob der Albtraum, den er durchlitten hatte, zu Ende war. Es war Sommer, seit Wochen lag drückende Hitze über Cuxhaven. Aber er war völlig durchgefroren. So kalt war das Wasser doch gar nicht. Und er war auch daran gewöhnt, er ging doch fast jede Nacht schwimmen. Trotzdem zitterte er erbärmlich. Und es war dunkel. Keine Sterne über ihm. Das monotone Brummen kam nicht von einem Containerschiff in der Fahrrinne, die Geräuschquelle befand sich ganz in seiner Nähe. Unter sich spürte er den Boden vibrieren. Er lag auch nicht im Sand, sondern auf Bruchstücken von Styropor und Pappe. Und er war nackt.
Jensen wollte aufspringen, aber seine Glieder waren wie gelähmt und sein Kopf von einem dumpfen Schmerz erfüllt. Mühsam richtete er sich auf, geriet ins Taumeln, stützte sich ab und spürte die Kälte einer eisigen Wand. Vorsichtig tastete er sich in der Dunkelheit voran. Plötzlich bewegte sich der Fußboden unter ihm.
In diesem Augenblick wusste er, dass er nicht mehr träumte. Er befand sich in einem Fahrzeug. Eines jener Sorte, die fast täglich vor dem Küchentrakt des Cap Cux hielten, um Tiefkühlware aller Art anzuliefern. Fisch und Meeresfrüchte, Gemüse und Pommes frites, Torten und Eis. Nur dass dieser Wagen nichts von alledem geladen hatte. Die einzige Ladung waren offenbar Reste von Styropor-Verpackungen. Und er.
Am Strand hatte er niemanden mehr gesehen. Irgendwo in der Dunkelheit hatten ein paar Jugendliche gelärmt, sonst war zwischen Strandbad und Kugelbake alles ruhig gewesen. So hatte er seine Last unbehelligt einwickeln und auf der mitgebrachten Sackkarre zum Parkplatz neben der Minigolf-Anlage schaffen und in den Kühlwagen packen können.
Der Mann war schwerer gewesen, als er vermutet hatte, und durch die Anstrengung des Transports war er schweißnass, als er die Tür zum Laderaum schloss. Aber er gönnte sich keine Pause, lief zurück, um die Spuren der Sackkarre im Sand zu verwischen,
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