Eiskalter Sommer
sahen sie nur das Licht des Feuers als glühenden Punkt, der sich langsam vergrößerte. Schemenhaft wurden bald darauf die Gebäude sichtbar.
„Gott sei Dank“, stieß Jan hervor. „Ich hatte schon befürchtet, dass wir ... Was ist? Wir sind bald da. Lass uns weitergehen.“
Susanne Clasen war plötzlich stehen geblieben. Sie starrte auf das Bild des verschneiten Gehöfts, aus dessen Mitte noch immer Flammen loderten und das von dunklen Punkten umringt war. Für Sekundenbruchteile trug der Wind Fetzen tierischen Gebrülls zu ihnen herüber.
„Wir haben meinen Vater umgebracht“, murmelte sie.
Hendrik stieß sie an. „Komm! Weiter! In einer Viertelstunde sind wir im Haus.“ Doch das Mädchen verharrte wie angefroren.
Jan versuchte, sie an die Hand zu nehmen, doch sie entwand sie ihm.
„Mach jetzt keine Zicken!“ Hendrik hatte die Stimme erhoben und starrte sie böse an.
Susanne rührte sich nicht.
„Versuch du dein Glück, Jan.“ Hendrik wandte sich zum Gehen. „Ich habe keine Lust, mir hier den Arsch abzufrieren. Bloß weil die nicht richtig tickt.“
Jan legte den Arm um Susanne, um sie vorwärts zu bewegen. Vergebens.
Hendrik stapfte ein paar Schritte voraus. „Ich gehe jetzt jedenfalls weiter. Wenn sie nicht will, muss sie eben hierbleiben.“
Unschlüssig wanderte Jans Blick zwischen Susanne und seinem Kameraden hin und her. Dann tat er ein paar Schritte und drehte sich um. „Komm, Susanne. Es ist nicht weit. Zuhause ist es warm.“
Das Mädchen sah durch ihn hindurch. Und bewegte sich nicht.
*
Obwohl sie verbotenerweise über Nacht die Fenster offenstehen ließen, hatte sich das Dienstzimmer von Hauptkommissar Röverkamp und Kommissarin Janssen nicht spürbar abgekühlt. Immerhin erschien Marie die Luft besser als im übrigen Haus.
Sie hatte die bisherigen Ermittlungsergebnisse in Stichworten auf eine Flipchart geschrieben. Die Namen der Opfer und der mit ihnen in Verbindung stehenden Personen hatte sie mit farbigen Linien verbunden. Etwas abseits und unverbunden stand der Name Ostendorff, versehen mit einem Fragezeichen.
Danach hatte sie die Akte von Christian Fedder studiert, aus der Röverkamp schon zitiert hatte. Was ihre Kollegen seinerzeit aufgeschrieben hatten, ließ trotz ihres dürren Beamtendeutschs lebhafte Bilder vor ihrem inneren Auge entstehen.
Es muss wohl heftiger Punkrock oder ähnlich durchdringende Musik gewesen sein, die der Neunzehnjährige immer wieder aufgedreht hatte. Irgendwann war es dem Nachbarn zu bunt geworden und er hatte – nach eigener Aussage zunächst höflich, später laut und deutlich – um Zimmerlautstärke gebeten. Aber offenbar hatte sich der junge Mann davon nicht beeindrucken lassen. Mehrmals hatte es vernehmbare Auseinandersetzungen im Hausflur gegeben.
Irgendwann war der Nachbar in die Feddersche Wohnung eingedrungen und hatte die Musikanlage – wie es hieß – ausgetreten . Das hatte zu einer Rangelei zwischen den Streitenden geführt. Schließlich war der Vater des jungen Mannes hinzugestoßen. Gemeinsam hatten sie den Eindringling überwältigt und auf den Balkon geschleppt. An den Füßen hatten sie ihn dann so lange über die Balkonbrüstung gehalten, bis der Mann, der unter sich zwei Stockwerke und am Boden einen unsanften Aufprall in dornige Büsche zu erwarten hatte, um Gnade gefleht und versprochen hatte, den Schaden zu ersetzen. Beim unsanften Rückzug hatte er sich an der Fensterbank die Nase gebrochen.
Beide Fedders waren wegen gefährlicher Körperverletzung und Nötigung verurteilt worden. Hannes Fedder musste einschließlich seiner widerrufenen Bewährungsstrafe insgesamt acht Monate absitzen. Christian bekam als Ersttäter Bewährung.
Noch vor dem Ende des Verfahrens hatte sich der Nachbar eine neue Wohnung gesucht und war umgezogen, ohne den Schaden an der Stereoanlage zu ersetzen. Was die kuriose Geschichte für die laufenden Ermittlungen bedeutsam werden ließ, war der Name des Geschädigten. Er hieß wie das zweite Kälteopfer. Jensen. Und sein Beruf war Koch.
Marie hatte eine dicke Verbindungslinie zwischen Jensen und Fedder gezogen und „Christian“ hinzugefügt.
Als Konrad Röverkamp das Büro betrat, verharrte er kurz vor der Zeichnung. „Sehr gut, Marie. Wir sollten alles noch einmal durchgehen. Vielleicht kommen wir dann zumindest zu einer Hypothese. Oder zu mehreren. Uns wird nichts anderes übrig bleiben, als nacheinander mögliche Theorien auf ihre innere Logik abzuklopfen.“ Er deutete auf den
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