Eiskalter Wahnsinn
Beschreibung, wie er mit seiner Maschine das Fass aus dem Geröll gegraben hatte – allerdings wurde es eine Piepton-Version.
„Ich habe es fallen lassen. Rums. Einfach so. Und dieser ,Piep‘-Deckel ist irgendwie abgesprungen, als es auf den Boden krachte. Und ,Piep‘, da war eine ,Piep‘-Leiche drin.“
Lillian suchte unter dem versammelten Dutzend ihrer Stammkunden nach ihrem Bruder Wally. War er schon hier gewesen, um sich seine tägliche Bärentatze und das Glas Milch abzuholen und wie üblich zu jammern und zu klagen? Einmal war es der Rücken, dann wieder die Schleimbeutelentzündung in der Schulter oder der überempfindliche Magen. Sie fragte sich, was er vom Fund seines Partners hielt.
Schließlich entdeckte sie Walter Hobbs am Ende des Tresens, drei Hocker von der Versammlung entfernt allein seine Milch trinkend. Lillian ging um die Gruppe herum und setzte sich neben ihn. Er warf ihr einen kurzen Blick zu und widmete sich wieder seiner Newsweek, die geöffnet vor ihm lag, mehr an den Schlagzeilen über tote El-Kaida-Mitglieder auf der anderen Seite der Welt interessiert als an der Leiche im eigenen Hinterhof.
Ohne sie anzusehen oder ihre Frage abzuwarten, bemerkte Walter kopfschüttelnd: „Warum zum Teufel konnte er nicht da wegbleiben und den verdammten Steinbruch in Frieden lassen?“
7. KAPITEL
Luc Racine war es übel. Und es war ihm peinlich, dass der Anblick der Leiche ihm weniger zugesetzt hatte als die Kamera. Es war ihm ganz gut gegangen, bis sie die Kamera einschalteten und die kleine Reporterin ihm Fragen stellte. Er war ganz fasziniert gewesen, wie ihre Augen hinter den dicken Brillengläsern optisch hervortraten. Riesige blaue Augen, die ihn an die Augen eines exotischen Fischs in einem Aquarium erinnerten. Aber dann nahm sie die Brille ab, die Kamera wurde eingeschaltet, und die Linse war auf ihn gerichtet wie der Lauf eines Präzisionsgewehrs.
Die Fragen der jungen Reporterin kamen jetzt immer schneller. Er konnte sich schon nicht mehr an ihren Namen erinnern, obwohl sie sich gerade vor laufender Kamera vorgestellt hatte. Vielleicht hieß sie Jennifer … oder Jessica? … nein, es war Jennifer. Vielleicht. Er musste genauer aufpassen. Er konnte nicht im selben Tempo denken und antworten, in dem sie fragte. Aber wenn er nicht schnell genug antwortete, würde sie sich dann wieder Calvin zuwenden?
„Ich lebe gleich da drüben“, erzählte Luc ihr und machte eine winkende Bewegung über die Schulter. „Nein, ich habe nichts Ungewöhnliches gerochen“, fügte er hinzu, und ein wenig Speichel flog in ihre Richtung. „Kein bisschen.“ Sie sah ihn nur an, ohne eine weitere Frage zu stellen. Ach herrje, er hatte sie tatsächlich angespuckt. Er sah den kleinen glänzenden Fleck auf ihrer Stirn. „Die Bäume schotten das Gebiet hier irgendwie ab.“ Er winkte in die andere Richtung. Vielleicht hatte sie die Spucke nicht bemerkt. Warum hob er den Arm so hoch? „Dieses ganze Gebiet ist sehr abgeschieden.“
„Sehr abgelegen“, sagte Calvin und bedachte Luc mit einem missbilligenden Blick. Den konnte die Kamera jedoch nicht einfangen, da Calvin durch den Rücken der Reporterin verdeckt wurde.
Sein Kommentar lenkte ihre Aufmerksamkeit jedoch wieder auf ihn. Sie wandte sich ihm zu und hielt ihm das Mikrofon hin. Dafür musste sie sich strecken. Calvin Vargus war riesig. Als er vorhin in seinem Bagger gesessen hatte, war er Luc wie eine Maschine vorgekommen: groß, kräftig und dauerhaft wie ein Stück Stahl. Ja, wie ein Metallklotz ohne Markierungen wie Hals oder Taille.
Neben Calvin wirkte die Reporterin wie ein Zwerg. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihm das Mikro an die fleischigen Lippen zu halten. Trotzdem widmete sie ihm ihre ganze Aufmerksamkeit, obwohl er seine morgendliche Entdeckung vorhin recht drastisch geschildert hatte. Natürlich bevorzugte sie Calvins Version, zumal er sie mitteilte und nicht spuckte. Wer würde nicht einem halslosen Giganten den Vorzug geben vor einem winkenden Spucker?
Luc sah zu. Was hätte er auch sonst tun können? Er hatte seine Chance gehabt und vertan. Und das nicht zum ersten Mal. Er war schon einmal im Fernsehen gewesen, während der Antrax-Geschichte. Eine Frau auf seiner Route war krank geworden, und er hatte den Brief ausgeliefert. Eine Woche lang hatten sie die Poststation in Wallingford geschlossen, alle Einrichtungen überprüft und alle Austräger wegen der künftig zu treffenden Sicherheitsmaßnahmen geschult.
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