Eiskalter Wahnsinn
getroffen, um zu reden, einfach nur zu reden. Jedenfalls bisher. Er scheint wirklich sehr nett zu sein. Eigentlich gar nicht mein Typ, was? Nicht dass ich in puncto Männer eine besonders gute Menschenkennerin wäre. Genau genommen könnte er auch ein Axtmörder sein, oder?“
Wieder ein gezwungenes Lachen. „Also ich hatte gehofft … ich weiß nicht … vielleicht hatte ich gehofft, Sie würden es mir ausreden und mich vor … Sie wissen schon … mich vor mir selbst schützen, wie Sie das immer tun. Wer weiß, vielleicht kommt er gar nicht. Jedenfalls sehen wir uns am Montagmorgen zu unserer üblichen Sitzung. Dann dürfen Sie mich anschreien, okay?“
Sie unterbrach die Leitung, ehe sich automatisch die Liste weiterer Vorgehensweisen abspulte, wonach sie ihre Botschaft noch einmal hätte hören, verändern oder löschen können. Sie war es Leid, Entscheidungen zu treffen, jedenfalls für heute Nacht. In den letzten Tagen hatte sie nichts anderes getan als entschieden. Das feierliche Arrangement oder das De-Luxe-Vorzugsarrangement, für den Fall, dass man sich schuldig fühlte? Weiße Rosen oder weiße Lilien? Der Walnusssarg mit Messingbeschlägen oder der Mahagonisarg mit Seidenauskleidung?
Allmächtiger! Wer hätte gedacht, dass die Beisetzung eines Menschen so viele dumme Entscheidungen erforderte?
Joan warf das Handy in ihre Tasche, fuhr mit den Fingern in das dichte blonde Haar und schob sich ungeduldig die feuchten Strähnen aus der Stirn. Sie schaltete das Licht über dem Spiegel ein und besah sich im Rückspiegel den dunkel nachwachsenden Haaransatz. Darum würde sie sich bald kümmern müssen. Blond zu sein erforderte einigen Aufwand.
„Du bist arbeitsintensiv geworden, Schätzchen“, sagte sie dem Spiegelbild ihrer Augen. Augen, die sie an manchen Tagen kaum erkannte, da immer mehr Krähenfüße ihre Lachfalten verdrängten. Würde das ihr nächstes Projekt werden, als Teil des neuen Images, das sie sich zulegte? Sie hatte sogar schon einen plastischen Chirurgen aufgesucht. Was bildete sie sich überhaupt ein? Dass sie sich neu erschaffen konnte wie eine ihrer Skulpturen? Tonform, Messingguss und fertig? Und wenn sie schon mal dabei war, gab sie der so geschaffenen Joan Begley auch gleich noch ein paar neue Verhaltensmuster mit.
Vielleicht war dieses Umkrempeln der Persönlichkeit ein hoffnungsloses Unterfangen. Allerdings schien sie allmählich ihre vielen Diäten samt Jo-Jo-Effekten unter Kontrolle zu bekommen. Okay, Kontrolle war vielleicht nicht das richtige Wort, denn sie war nicht überzeugt, dass sie sich wirklich unter Kontrolle hatte. Aber sie musste zugeben, dass sich ihr neuer, abgespeckter Körper gut anfühlte. Richtig gut. Sie konnte jetzt Dinge tun, zu denen sie schon lange nicht mehr fähig gewesen war. Sie konnte sich bei der Arbeit wieder um ihre Metallskulpturen herumbewegen, ohne alle fünf Minuten aus der Puste zu sein. Wie eine Öllampe ohne Öl hatte sie dann warten müssen, bis genügend nachgepumpt war, ehe sie weitermachen konnte.
Ja, die neue, schlanke Figur hatte auch Auswirkungen auf ihre Arbeit. Sie ging mit einem völlig neuen Lebensgefühl daran. Warum wurde sie dann diese ärgerliche kleine Stimme im Hinterkopf nicht los, die dauernd nörgelnd fragte: „Wie lange wird es diesmal halten?“
So wunderbar sie ihren neuen Zustand auch fand, in Wahrheit traute sie dieser neuen Joan nicht. Sie traute ihr so wenig wie zuckerfreier Schokolade oder fettfreien Kartoffelchips. Da musste es einen Haken geben, wie schlechten Nachgeschmack oder chronische Diarrhö. Worauf es eigentlich hinauslief, war ihr mangelndes Selbstvertrauen. Da steckte ihr Problem, das brachte sie in Schwierigkeiten. Deshalb wartete sie in finsterer Nacht hier oben auf der Hügelkuppe im Auto auf einen Typen, mit dem sie sich hoffentlich gut fühlte und der ihr das Gefühl gab – oh Gott, sie mochte es kaum zugeben –, vollwertig zu sein.
Dr. P. behauptete, das käme daher, weil sie glaube, es nicht zu verdienen, glücklich zu sein. Sie fände, Glück nicht wert zu sein – oder irgend so ein Psychokrampf. Immer wieder hatte ihr Dr. P gesagt, es nütze wenig, das Äußere zu verändern, solange man im Innern die Alte blieb.
Wie sie das verabscheute, wenn ihre Seelenklempnerin Recht hatte.
Sie überlegte, ob sie Dr. P. noch einmal anrufen sollte. Nein, das wäre lächerlich. Sie sah kurz in den Rückspiegel. Er kam wahrscheinlich sowieso nicht.
Plötzlich merkte sie, wie enttäuscht sie war.
Weitere Kostenlose Bücher