Eiskalter Wahnsinn
„Laufkundschaft, die wir sonst nicht hätten.“
Laufkundschaft war genau das, was Lillian fürchtete. Und deshalb hatte sie zuerst rebelliert. Na ja, rebelliert war vielleicht ein zu starkes Wort. In ihren sechsundvierzig Jahren hatte sie noch nie gegen etwas rebelliert. Sie hatte schlicht die Klugheit von Rosies Nebengeschäft angezweifelt und befürchtet, dass die Kaffeebar eher vom Hauptgeschäft ablenkte und nur Klatschmäuler anzog, die dann ihre eigenen Geschichten erfanden und zum Besten gaben, anstatt Bücher zu kaufen.
Rosie hatte jedoch Recht behalten. Wieder mal. Die Kaffeegäste waren gut fürs Geschäft. Nicht nur, dass sie ihnen den täglichen Stapel an New York Times und USA Today abbauten. Auch bei Magazinen und Taschenbüehern kam es zu Impulskäufen. Bald stöberten die täglichen Kaffeetrinker – sogar die mocca-latte-Typen mit dem extra Schlag Sahne und die Espressosüchtigen – die Buchregale durch und kamen sogar nach der Arbeit und an Wochenenden hereingeschlendert. Manchmal brachten sie ihre Familien oder Freunde mit. Okay, Laufkundschaft war also keine so üble Sache.
Ja, Rosie hatte Recht behalten.
Es machte Lillian nichts aus, das einzuräumen. Rosie war die mit dem Geschäftssinn, ihre Stärke waren die Bücher, weshalb sie sich als Geschäftspartnerinnen ausgezeichnet ergänzten. Es störte sie auch nicht, dass Rosie ihr gelegentlich den guten Kaufmannsinstinkt unter die Nase rieb. Wie könnte es, wo sie doch an jedem Tag ihrer Leidenschaft frönen durfte. Aber Montage waren am besten. Sie waren wie Weihnachten. Weihnachten in einem vollen, dunklen Lagerraum, gestärkt von einer Tasse Milchkaffee und bewaffnet mit einem Kistenöffner.
Kartons aufzuschneiden war jedes Mal wie das Öffnen eines wertvollen Geschenks. Zumindest kam es ihr bei jeder neuen Büchersendung so vor, wenn sie die Klappen des Kartons zurückschlug und das Aroma von Druckerschwärze, Papier und Einbänden aufstieg, das sie in eine andere Welt versetzte. Ob es eine Fuhre historischer Romane aus dem achtzehnten Jahrhundert, Liebesromane oder der letzte Bestseller der New York Times-Liste war, spielte dabei keine Rolle. Sie liebte den Geruch und den Anblick von Büchern. Gab es etwas Himmlischeres?
An diesem Montag konnten jedoch auch die Kartons neuer Bücher ihre Gedanken nicht am Abschweifen hindern. Roy Morgan, der Antiquitätenhändler von nebenan, war vor gut einer Stunde völlig atemlos und wirr stammelnd in ihren Laden gestürmt. Mit dem hochroten Kopf – sie hatte bemerkt, dass sogar seine Ohrläppchen glühten – und dem wilden Blick hatte er ausgesehen, als träfe ihn gleich der Schlag. Entweder das, oder er stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Allerdings war Roy so ungefähr der nervenstärkste Mensch, den sie kannte.
Als er dann zu reden begonnen hatte, hastig und abgehackt, war er geradezu über die eigenen Worte gestolpert wie jemand am Rande des Wahnsinns. Und was er sagte, klang in der Tat, als hätte er den Verstand verloren.
„Eine Frau in einem Fass“, wiederholte er mehrmals. „Sie haben sie in ein Fass gestopft gefunden. Ein Fünfundfünfzig-Gallonen-Fass. Etwas nördlich vom McKenzie Reservoir. Unter einem Berg Sandstein vergraben, im alten McCarty Steinbruch.“
Die Geschichte klang nach einem Thriller. So etwas könnte einer Patricia Cornwell oder einem Jeffrey Deaver eingefallen sein.
„Lillian!“ rief Rosie von der Tür zum Lagerraum, und Lillian zuckte zusammen. „Die bringen was in den Nachrichten. Komm schnell!“
Als sie aus dem Lager eilte, hatten sich alle Anwesenden um einen kleinen Fernseher geschart, den sie noch nie gesehen hatte. Er stand zwischen Gebäckauslage und den Serviettenhalter gequetscht. Sogar Rosies begehrter antiker Krug, in den sie die rosa Päckchen von „Sweet‘n Low“ gab, war beiseite geschoben. Als Lillian den Fernseher entdeckte, wusste sie Bescheid. Zuerst die Kaffeebar, jetzt auch noch ein Fernseher. Das würde alles verändern, und nicht zum Besseren. Das spürte sie wie ein aufziehendes Gewitter – oder wie früher in der Kindheit die sich anbahnenden Tobsuchtsanfälle der Mutter.
Auf dem kleinen Bildschirm sah sie Calvin Vargus, den Geschäftspartner ihres Bruders, vor einer zierlichen Nachrichtenreporterin stehen. Calvin sah aus wie eine karierte Eisenbahnschwelle, solide, steif und massig, aber mit einem albernen jungenhaften Grinsen im Gesicht, als hätte er einen verborgenen Schatz entdeckt.
Lillian lauschte Calvins
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