Eiskaltes Herz
zurück. »Ich kann mich einfach nicht mehr erinnern!«
»Vielleicht verdrängst du ja unbewusst die Erinnerung, weil …« Tine stockte.
Ich begriff sofort, was sie meinte. »Weil ich ihr was getan habe? Weil ich sie den Felsen runtergestoßen habe? Meinst du das?«
Tine schnappte hastig nach Luft. »Es gibt doch so Verdrängungstaktiken, wenn man was Schreckliches erlebt hat, das hatten sie neulich in einer Talkshow, das Gehirn entwickelt solche Strategien und …«
Ich schüttelte den Kopf. »Traust du mir wirklich zu, dass ich jemanden in den Tod stürzen könnte?«
Sie wich meinem Blick aus, schüttelte aber leicht den Kopf.
Na endlich. Aber warum ging es mir dann nicht besser?
Weil ich Angst hatte, dass sie recht haben könnte? Dass ich wirklich etwas verdrängte?
Der Tag verlief von unangenehm über furchtbar bis hin zu schlicht unerträglich. Um zwölf Uhr wollte ich nur noch hier weg. Ich kam mir vor wie eine Leprakranke im Mittelalter. Man ging mir aus dem Weg. Keiner redete mit mir. Leander war nicht in der Schule. In jeder Stunde forderten uns die Lehrer auf, über unsere Trauer zu reden und Erinnerungen an Vanessa auszutauschen. Ich saß starr auf meinem Platz und sehnte mich nach Hause. Als unser Mathelehrer Herr Schramm wortlos Funktionsrechnungen an die Tafel schrieb, hätte ich ihn vor Freude küssen können. Wenigstens einer ließ mich in Ruhe, doch die Stunde war viel zu schnell vorbei. Was dann folgte, überstieg alles bisher Dagewesene. Wir sollten in die Aula kommen, wo eine sichtlich bewegte Frau Herz am Rednerpult stand und mit den Tränen kämpfte. Ein gemaltes Bild von Vanessa lehnte neben ihr, davor lag eine einzige perfekte Lilie. Ich fragte mich, wer das Bild gemalt hatte. Wo es so schnell herkam. Vanessa sah darauf aus wie Ophelia auf einemGemälde, das wir neulich im Kunstunterricht besprochen hatten. Wie eine Heilige.
Ich hielt meinen Blick gesenkt und schlich in die allerletzte Reihe. Tine saß neben Gregor, sie hielten sich an den Händen und sahen nicht zu mir. Ganz hinten war niemand. Nur Karolin Witsche in ihrem schwarzen Goth-Umhang. Dies musste der einzige Tag des Jahres sein, an dem sie nicht auffiel. Sie musterte mich träge mit ihren schwarz umrandeten Augen. Und nickte mir zu. Ich nickte zurück, ließ mich auf den Sitz fallen, um die Rede da vorn zu überstehen. Meine Gedanken schwirrten immer wieder zu jenem Tag vor ein paar Wochen zurück, als Leander sich in ebendieser Aula nach Vanessa den Hals verrenkt hatte. So vertieft war ich in meine Gedanken, dass ich erst gar nicht mitbekam, dass Karolin etwas zu mir gesagt hatte.
»Was?«, flüsterte ich.
»Volksfest«, wiederholte Karolin. Sie nickte mit dem Kopf nach vorn, wo jetzt ein Junge mit Gitarre »Angels« von Robbie Williams sang.
»Engel, na klar.« Sie rümpfte verächtlich die Nase. »Ein Engel, der fast jede Nacht um Mitternacht aus dem Fenster geklettert ist und der mir immer Abnehmtipps aufgedrängt hat. Besonders gern, wenn ganz viele Leute dabeistanden.«
»Aus dem Fenster geklettert?«, fragte ich verblüfft.
Sie nickte. »Die Klingers sind unsere Nachbarn.«
Ich hatte keine Ahnung davon gehabt, dass Karolin und Vanessa nebeneinanderwohnten.
»Der Vater ist nett«, fuhr sie leise fort. »Für den tut's mir leid. Die Mutter ist kalt wie Hundeschnauze. Ganz wie die Tochter.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Vorn sprach jetzt Vanessas Klassenlehrer darüber, dass Menschen, die unendlich geliebt worden sind, nie vergessen werden. Kalt wie Hundeschnauze.
»Gestern haben sie auch noch bei denen eingebrochen«, informierte mich Karolin weiter. Sie kratzte mit ihren schwarzen Fingernägeln an ihrem Nasenpiercing herum. »In Vanessas Zimmer. Trophäenjäger oder so. Wollen alle noch ein Stück von ihr, als wäre sie ein Promi.«
Die Tür zur Aula ging neben der Bühne auf und die Schulsekretärin steckte ihren Kopf herein. Sie hauchte »Entschuldigung« und sah suchend ins Publikum. Zu mir. Sie deutete mir an, mit ihr zu kommen. Das durfte doch nicht wahr sein. Es war wahr. Vor den Augen aller musste ich nach vorn, meine Sneakers quietschten leise, meine Haare hingen mir ins Gesicht. Ich sah weder nach rechts noch nach links, konzentrierte mich nur auf den grau melierten Kopf der Sekretärin. Es war der längste Weg meines Lebens, die Luft in der Aula dick und schwer und schwül, das Flüstern bösartig wie ein drohendes Unwetter. Endlich hatte ich es geschafft.
»Deine Eltern sind hier«,
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