Eiskaltes Herz
nicht so gemeint.«
»Ist schon gut. Vielleicht hast du ja recht. Vielleicht ist es Schicksal, dass alles so passiert ist, wie es passiert ist.«
Eine unangenehme Pause entstand und so fuhr ich schnell fort. »Und vielleicht ist es auch Schicksal, dass ich in San Francisco in einem Pink Cadillac herumfahren und dort meinen neuen Traumprinzen treffen werde – Josh oder Jack, Gitarre spielender Surfer mit süßen Grübchen und einem Faible für deutsche Mädchen und so.«
Zu meiner Verblüffung lachte Tine nicht, sondern zwirbelte verlegen eine Haarsträhne zwischen den Fingern. Sie räusperte sich leicht. »Wegen San Francisco, Lena, da wollte ich sowieso noch mal mit dir reden.«
»Was denn?« Eine dumpfe Vorahnung überfiel mich.
»Das wird doch nichts. Ich meine, ich fliege. Aber meine Tante will nicht die Verantwortung für noch ein Mädchen übernehmen.«
»Was?« Mehr brachte ich nicht heraus.
Sie verzog entschuldigend ihren Mund. »Es ist Scheiße, ich weiß. Ich hatte mich auch total gefreut. Und ohne dich wird es todlangweilig.«
»Aber es war doch alles abgesprochen.« Ich konnte es nicht fassen. »Deine Eltern haben ihr Okay gegeben, meine auch, was hat sich denn geändert?«
»Na ja, meine Eltern haben Schiss, San Francisco ist ein gefährliches Pflaster und sie wollen nicht, dass ich da alleine mit einer Freundin herumziehe, dort gibt es 'ne Menge Drogen und Zeugs und …«
Und plötzlich verstand ich. Ihre Eltern hatten Angst, Tine mit mir fahren zu lassen. Es hatte gar nichts mit ihrer Tante zu tun. Ich war der unberechenbare Faktor in der ganzen Sache. Psycho-Lena. Die von wildfremden Leuten Drogen annahm und Dinge tat, an die sie sich hinterher nicht mehr erinnern konnte.
»Ach so«, krächzte ich. Der Bean-Bag sackte unter mir zusammen, ich rollte beinahe hinaus.
»Ich bring dir was mit«, fuhr Tine fort, ihre Augen voller Mitleid. »Und, Mann, in einem Jahr sind wir achtzehn, da können wir machen, was wir wollen. Da fliegen wir noch mal zusammen und ich kenne mich dann schon dort aus und …«
Ich hörte nicht mehr zu. Mein Blick hielt sich an einem Poster über Tines Bett fest. Es zeigte Filbert Street, die steilste Straße in San Francisco mit ihren bunten Häuschen und den Autos davor, die durch die Schräge ganz schief geparkt wirkten. Tine würde dort alleine entlangschlendern. Bei ihrer Rückkehr wahrscheinlich besser Englisch reden als ich.
»Ich muss los.« Abrupt stand ich auf.
»Du bist doch nicht sauer Lena, oder? Es tut mir echt total leid. Und wieso willst du schon weg, du wolltest mir doch von diesem Typen erzählen, dem aus dem Café? Wie hieß er gleich, Bert?«
»Ben. Ein andermal.« Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Hab ganz vergessen, dass ich mit meiner Mutter verabredet bin. Zum Shoppen.«
Ben. Der hatte mir heute bei Facebook eine Freundschaftsanfrage geschickt. Wie es aussah, war er der Einzige, der überhaupt noch etwas von mir wissen wollte.
Die Autos meiner Eltern standen zum Glück noch nicht vor unserem Haus, Gott sei Dank. So musste ich mich wenigstens nicht, wie so oft in letzter Zeit, verstohlen von meiner Mutter mustern lassen, ob ich irgendwelche Anzeichen von Drogensucht zeigte. Unnatürlich geweitete Pupillen und irres Grinsen oder zwanghaftes Kauen. Mein Onkel Hannes, der Bruder meiner Mutter, war Alkoholiker. Ein jahrelang gut funktionierender Alkoholiker, ein Arzt sogar, der irgendwann vor lauter Stress auch noch zu Tabletten gegriffen hatte und mittlerweile seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte. Meine Mutter war überzeugt davon, dass das Gen in uns allen schlummerte. Ich schloss unsere Haustür auf, dann schaffte ich noch schnell mein Fahrrad nach hinten. Einen Moment lang glaubte ich etwas zu hören. Jemanden zu hören. Ich sah mich kurz um, doch da war nur unsere nachmittägliche Straße, und so huschteich ins Haus, schmiss meine Schuhe in den Flur und begab mich in die Küche. Es klingelte.
Ich hielt mitten in der Bewegung inne. Hatte dieser blöde Ben etwa meine Adresse herausgefunden? Jemand anderes kam in letzter Zeit kaum zu mir, der Briefträger legte unsere Pakete vorn am Zaun in eine extra dafür angebrachte Box, die Nachbarn waren alle arbeiten. Wieder klingelte es, diesmal drängender.
Ich ging zurück zur Tür, gab mir einen Ruck und öffnete sie. Vor mir stand der letzte Mensch auf der Welt, mit dem ich gerechnet hatte.
Vor mir stand Leander.
18
Juni
Die drei sind vor die Tür gegangen, haben sie aber offen gelassen.
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