Eiskaltes Herz
Der Mann mit der Wollmütze hat uns immer noch im Blick. Mir fällt auf, dass er keine Tätowierungen wie die anderen hat. Seine Mütze sieht handgemacht aus und ich frage mich, wer ihm die geschenkt hat. Es ist wohl eher unwahrscheinlich, dass er sie selbst gestrickt hat. Irgendwo da draußen gibt es eine Frau, die ahnungslos Mützen für Kriminelle strickt. Oder weiß sie Bescheid? Schenkt sie ihm zu Weihnachten jedes Jahr eine Mütze mit den Worten »Damit du beim Kidnapping nicht frierst«?
Ich weiß nicht, warum ich über so etwas nachdenke. Um mir vorzustellen, dass er eine nette, freundliche Seite hat? Um mich auf andere Gedanken zu bringen?
»… und dann?« Das klingt wie der Albino. »Was für ein Scheiß, Alter. Das geht nicht.«
»… noch mal dasselbe?« Das ist Skarabäus, da bin ich mir sicher. »… ein Unfall, Mann.«
»… machen wir, was Max sagt.«
»Nein, verdammt noch mal!«
Wir können Fetzen ihrer zischenden Auseinandersetzung hören, einer heißt also Max – aber nützt mir das was? Werde ich je die Gelegenheit haben, mit der Information etwas anzufangen? Eine neue Furcht ergreift mich. Wenn es ihnen nichts mehr ausmacht, dass wir ihre Namen kennen, dann kann das nur eins bedeuten: dass es keine Rolle mehr spielt, ob wir es wissen oder nicht.
Es folgt beruhigendes Gemurmel, ich glaube von der Wollmütze, denn er wendet den Blick von uns ab und ich nutze schnell die Gelegenheit.
»Wieso bist du auch hier?«, flüstere ich in Leanders Richtung, sehe ihn dabei aber nicht an.
»Na, wegen dir«, flüstert er zurück. »Weil sie dich haben! Wie kommst du hierher? Was ist denn passiert?«
Es könnte fast lustig sein. Aber das Lachen bleibt mir im Hals stecken.
»Wegen dir«, zische ich zurück, mehr kann ich leider nicht sagen, denn Wollmütze sieht wieder zu uns. In Leanders Gesicht arbeitet es und dann klicken auch bei ihm die Puzzleteile zusammen. Nicht nur ich bin auf den ältesten Trick der Welt reingefallen, er auch. Wir sind uns eben ähnlich, waren es von Anfang an. Wir sind ein herrliches Paar, einer dümmer als der andere. Waren ein herrliches Paar. Was auch immer … Aber er ist hergekommen, weil er mir helfen wollte. Weil er mich doch noch liebt? Meine Gedanken huschen zu gestern Abend, dem bittersüßen Abend, ich sehe sein Gesicht über mir,spüre noch seine Wange an meiner. Ich fange an zu weinen, ganz plötzlich.
Leander sieht mich an und zieht die Augenbrauen hoch, auf diese Weise, mit der er mich früher immer zum Lachen bringen konnte. Er will mich ablenken und in diesem Moment liebe, liebe, liebe ich ihn so sehr und eine Sekunde lang will ich nur zu ihm kriechen, meinen Kopf in seinen Schoß legen, mich von ihm streicheln lassen wie im vergangenen Herbst, im schönsten Herbst meines Lebens. Ich sehe uns noch, als wäre es gestern. Wir waren auf dem Weg nach Hause an diesem sonnigen Septembertag, liefen zusammen durch den kleinen Park wie in der Woche zuvor, als Leander auf einmal wie zufällig zu unserem Grüppchen, bestehend aus mir, Tine und Nadine, hinzustieß. Nach ein paar Tagen gingen meine beiden Freundinnen grinsend erst langsamer, dann schneller und schließlich einen alternativen Weg, um mir und Leander das Feld zu überlassen. An diesem Septembertag lachten wir zwei uns bald kaputt über einen weißen Hund im rosa Kleidchen, der von seiner Besitzerin ausgeführt wurde. Es war noch warm draußen, die ersten Blätter wurden gelb, mein Schnürsenkel ging auf, ich bückte mich, um ihn zuzubinden, und als ich wieder hochkam, hielt Leander mich plötzlich fest und sagte: »Ich muss das jetzt einfach machen. Ich halte es sonst nicht mehr aus.« Das war unser erster Kuss. In den Tagen danach lagen wir stundenlang auf unseren Jacken im Gras, ich hatte meinen Kopf in seinen Schoß gebettet,und wenn ich jetzt die Augen zumache, kann ich mir die schmuddelige Abrisswohnung wegdenken und in Gedanken wieder dort sein. Dann kann der Albino sonst was für Pläne schmieden, es berührt mich nicht mehr. Er soll uns nur hier liegen lassen.
Doch das macht er nicht. Die Tür geht auf, die drei sehen uns an.
»Du«, sagt der Typ mit dem Skarabäus und zeigt auf mich, »kommst jetzt mit.«
19
Mai
»Ich muss mit dir sprechen.« Leander stützte sich am Türrahmen ab. »Jetzt.«
Mein Mund ging auf, kein Ton kam heraus, dafür hämmerte mein Herz so laut, dass Leander es garantiert hören musste. Hatte wieder jemand etwas über mich gesagt? Leander stellte seinen Fuß in die
Weitere Kostenlose Bücher