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Eismond: Ein Kimmo-Joentaa-Roman (German Edition)

Eismond: Ein Kimmo-Joentaa-Roman (German Edition)

Titel: Eismond: Ein Kimmo-Joentaa-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
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er gesagt, und sie hatte erwidert, seine Haare hätten ihr damals besonders gut gefallen: »Wer weiß, ob ich dich ohne diese Haare und vor allem ohne die Mütze genommen hätte.«
    Er erinnerte sich an ihr Lächeln und daran, dass sie fest seine Hand gedrückt hatte. Am Tag darauf hatte sie zu fantasieren begonnen und immer häufiger gefragt, wer er sei und wo sie sich befinde.
    Er füllte das Spülbecken mit heißem Wasser, ließ die Teller hineinsinken und begann, alle Fenster im Haus zu öffnen. Auf dem Glastisch im Wohnzimmer lag die Modezeitschrift, die Sanna zuletzt gelesen hatte, im Schlafzimmer war das Bett nicht gemacht. Die Decken lagen halb auf dem Boden.
    Er erinnerte sich an die Nacht, in der sie ihn geweckt und gesagt hatte, sie müsse jetzt wohl doch ins Krankenhaus, weil sie unerträgliche Schmerzen habe. Er hatte ihr angesehen, dass sie weinen wollte. Sie hatte nicht geweint, sondern mühsam gelächelt, und er hatte plötzlich ganz sicher gewusst, dass sie bald sterben würde, dass die Ärzte recht hatten und dass es keine Hoffnung mehr gab. Auf der Fahrt zum Krankenhaus hatte sie still neben ihm gesessen und die Schmerzen verschluckt.
    Er hatte das Gefühl gehabt, in vollkommene Leere hineinzufahren.
    Er öffnete im Wohnzimmer die Terrassentüren, setzte sich auf die Lehne des Sofas und dachte, dass diese Leere jetzt wirklich da war, eine umfassende, endgültige Leere. Er blieb eine Weile sitzen, dann ging er in die Küche und füllte ein Glas mit Wasser. Als er es zum Mund führen wollte, bemerkte er, dass seine Hände zitterten. Er stellte das Glas ab, legte seine Hände flach auf die Tischfläche und spannte die Muskeln und Sehnen an, um das Zittern zu kontrollieren.
    Durch das Küchenfenster sah er Pasi und Liisa Laaksonen, ein älteres Ehepaar, das im Nachbarhaus wohnte. Die beiden gingen wie jeden Tag um diese Zeit hinunter an den See. Pasi trug seine Angel über der Schulter, Liisa den hellbraunen Korb für die Fische, die ihr Gatte immer verblüffend mühelos aus dem Wasser zog. Die beiden sahen ihn hinter dem Fenster stehen und winkten. Er reagierte nicht.
    Er senkte den Blick und beobachtete die explodierenden Perlen im Wasserglas. In seinem Magen breitete sich langsam ein taubes Gefühl aus, das weiterwanderte, bis sein ganzer Körper wie betäubt war.
    Nach einer Weile ging er ins Wohnzimmer zum Telefon und wählte die Nummer von Merja und Jussi Sihvonen, Sannas Eltern. Er brach den Wählvorgang bei der letzten Ziffer ab, legte den Hörer auf die Gabel und atmete durch.
    Sannas Eltern waren noch am Tag vor ihrem Tod bei ihr gewesen und hatten angekündigt, am kommenden Wochenende wiederzukommen. Er erinnerte sich an den liebevollen, müden Blick, mit dem Merja ihre Tochter betrachtet hatte, und an die hilflosen Aufmunterungsversuche ihres Vaters. Sannas Eltern wohnten in der Nähe von Helsinki, rund zwei Autostunden entfernt von Turku. Kimmo Joentaa hatte anfänglich nicht begriffen, dass sich die beiden in der vergangenen Woche keinen Urlaub genommen hatten, um dauerhaft bei ihrer Tochter sein zu können. Erst allmählich war ihm klar geworden, dass sie entweder nicht verstanden oder nicht verstehen wollten, wie schlimm es um Sanna stand.
    Insbesondere Jussi Sihvonen hatte sich von Anfang an dagegen gesperrt, ihre Krankheit als Tatsache anzuerkennen. Er hatte zunächst beharrlich von einer Fehldiagnose gesprochen, erst die Ärzte und dann das ganze Gesundheitswesen kritisiert. Es sei undenkbar, dass Sanna die Hodgkinsche Krankheit habe, es sei eine statistische Unmöglichkeit. Diese Krankheit bekämen nur Männer, er habe sich erkundigt. Später, als sich Sannas Zustand verschlechterte, als die Chemotherapie die Krankheit sichtbar machte, hatte er ständig versucht, gute Laune zu erzwingen, während Merja Sannas Hand gehalten, ihr gut zugeredet und lethargisch gelächelt hatte. Joentaa hatte sich einige Male über Sannas Vater geärgert, aber wenn er jetzt an Merja und Jussi dachte, an ihr Entsetzen und ihre hilflosen Bemühungen, die Katastrophe zu bewältigen, spürte er nur tiefe Traurigkeit.
    Er hielt kurz inne, dann wählte er erneut. Sein Magen krampfte sich zusammen, als er Merjas erschöpfte heisere Stimme am anderen Ende der Leitung hörte.
    »Hier spricht Kimmo«, sagte er.
    »Kimmo, schön, dass du dich meldest. Wie geht es Sanna?«, sagte sie leise.
    »Merja … es ist vorbei … sie ist eingeschlafen, gestern Nacht.« Er wollte den Satz ruhig und deutlich aussprechen, aber

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