Eismord
Kleinkriminalität. Überprüfen.
DENK NACH
!
Mendelsohns Notizen waren ebenso emphatisch wie seine Art zu sprechen, und Cardinal kam es so vor, als säße der Mann in Morgan’s Chop House leibhaftig vor ihm und erläuterte ihm, indem er einzelne Wörter hervorhob und mit seiner Gabel gestikulierte, einen Sachverhalt.
Mendelsohn hatte mit den parallel durchgeführten Verbrechen natürlich recht. Sie wussten, dass die Automaten-Raubüberfälle von Winstons jungem Partner begangen wurden. Aber andere Verbrechen? Vielleicht in New York, in Algonquin Bay bislang nicht. Jedenfalls nach ihrem Kenntnisstand.
Eine Hand auf jeder Akte, hielt Cardinal plötzlich inne. Unter beiden Händen eine handschriftliche Notiz auf einer ansonsten leeren Seite: Begelman – Fotos an ViCap, die Sammelstelle für aufgeklärte Verbrechen.
Unter seiner linken Hand eine Akte mit ungefähr tausendfünfhundert Seiten. Unter der rechten Hand das Gleiche – plus ein brauner Umschlag. Er zog ihn unter dem Stapel hervor, öffnete ihn und nahm Scans von Originalfotos heraus. Die Scans waren von überragender Qualität und sprachen für die erheblich bessere finanzielle Ausstattung der US -Bundesbehörden gegenüber einer kleinen Kripo-Dienststelle in Ontario. Selbst die Legenden unter den Bildern waren scharf.
Bei einigen handelte es sich um Tatortfotos, welche die New Yorker Polizei zur Verfügung gestellt hatte. Neun-Millimeter-Patronenhülsen, ein kopfloser Rumpf, ein eingeschlagener Computermonitor. Cardinal blätterte den Stapel zügig durch. Dann kam er zu einem Foto von einem baufälligen alten Haus, das teilweise hinter Bäumen versteckt lag, mit der Bildunterschrift
Zabriskie Farm. Durchsuchung nach Telefonhinweis.
Cardinal las die Notiz über die Durchsuchung. Sie fahndeten nach einem jungen Mann namens Jack. Der laut dem anonymen Anrufer auf der Zabriskie-Farm lebte und eine Menge über die Elmira-Morde wusste. Die Farm wurde von einer Gruppe junger Leute bewohnt, die meisten von ihnen Studenten an der bundesstaatlichen Universität ein paar Meilen den Hudson hinauf. Jack war zur Farm gekommen, nachdem er in einer nahe gelegenen Bar einen der Studenten kennengelernt hatte. Er war nur zwei Tage geblieben, und niemand trauerte ihm nach. Auf Fotos von seinem Zimmer waren eine unbezogene Matratze, ein blanker Boden und ein abgegriffenes Buch mit dem Titel
Die Kriegskunst
zu sehen.
Es gab Fotos von den Bewohnern – drei saßen auf den Eingangsstufen, zwei weitere in der Küche. Cardinal konnte die polizeiliche Vorgehensweise nachvollziehen. Sie hatten keinen Grund, diese Leute zu verhaften, doch sie wollten etwas über sie in ihren Unterlagen haben – Gesichter zu den Namen –, und so hatten sie die Leute da, wo sie gerade standen oder saßen, abgelichtet. So etwas machten Cops, um ihre Akten zu vervollständigen. Es handelte sich um zwei junge Frauen und zwei junge Männer, alle zwischen Anfang und Mitte zwanzig, und keiner von ihnen entsprach der vagen Beschreibung durch den anonymen Anrufer: achtzehnjähriger weißer Mann, eins achtundsiebzig groß, kurzes Haar. Doch Cardinal kehrte zu dem Foto der Gruppe auf der Eingangsveranda zurück und sah genauer hin. Er saß ganz still und hielt es lange in der Hand.
Nach Lise Delormes Meinung benahm sich Cardinal seltsam. Sie hatten geplant, zusammen zu Kreeger rauszufahren, doch statt gemeinsam aufzubrechen, hatte er sie gebeten, ihn im
Highlands Lodge
abzuholen; er müsse aus irgendeinem Grund da raus und den Manager noch einmal befragen. Es wäre viel sinnvoller gewesen, einfach auf ihrem Weg einen Abstecher zu machen, doch er wollte nichts davon wissen.
Da saß sie also auf dem Parkplatz des
Highlands
und sah den Skifahrern hinterher, die auf die Spitze des Steilhangs fuhren. Sie trugen alle Skianzüge der neuesten Saison, manche sogar Balaklawas. Die Temperatur sank stetig, aller Wahrscheinlichkeit nach auch für den Rest des Tages. Über den Bergen brauten sich Gewitterwolken zusammen, die laut Wetterbericht Richtung Parry Sound zogen.
Als Cardinal endlich herauskam, zeigte er auf seinen roten Camry. Delorme stieg aus und schloss ihr nicht gekennzeichnetes Polizeifahrzeug ab. Sie ging zum Camry hinüber. »Sollten wir nicht den Dienstwagen benutzen?«
»Meiner hat bessere Winterreifen.«
Sie stieg ein, und er fuhr los, bevor sie den Gurt festschnallen konnte. Auf der Sutton bog er nach rechts ab, fädelte sich in den Verkehr auf dem Highway ein und fuhr Richtung Norden.
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