Eismord
Sie war neugierig wegen seines Besuchs im
Highlands
und hätte normalerweise nicht gezögert, ihn danach zu fragen. Doch Cardinal sagte kein Wort und sah sie nicht mal an, sondern presste die Lippen zusammen. Sie hatte es satt, Antworten aus ihm herauszuquetschen, und so schwor sie sich, den Mund zu halten, solange er nichts sagte.
Sie kamen an den ersten Vororten vorbei, bis sie zu ihrer Rechten Trout Lake erreichten.
»Es wird schon dunkel«, sagte Delorme und erinnerte sich im selben Moment an ihr Schweigegelübde.
Cardinal antwortete nicht. Sie konnte nicht sagen, ob er sauer oder besorgt war. In kleinen Dingen konnte man ihn leicht durchschauen; wenn er gereizt oder ungeduldig war, dann wusste sie es sofort. Doch wenn er starke Gefühle hegte, wurde er am verschlossensten. Immer wenn seine Frau in die Klinik gekommen war, hatte man es ihm in seinem Alltagsverhalten nicht angemerkt. Vielleicht war er ein wenig stiller gewesen, weiter nichts.
Die einzige Ausnahme hatte sie erlebt, als seine Frau gestorben war. Das konnte nicht einmal ein Stoiker wie er für sich behalten, und es brach einem das Herz, es mit anzusehen. Trotz seiner Trauer arbeitete er natürlich die ganze Zeit weiter – seine Art, damit umzugehen. Delorme schätzte, dass sie es genauso gehalten hätte, nein, korrigierte sie sich, dass sie versucht hätte, es genauso zu halten.
Sie fuhren an der Island Road und der Clayton Crossroads vorbei immer weiter, bis sie die bebauten Gebiete hinter sich gelassen hatten. Zu beiden Seiten des Highways gab es nur noch Wald; auf den Kanten der Felsspalten glitzerte Schnee. Ein graues Einerlei senkte sich über die Landschaft, wurde immer dunkler und schien die Straße zu erfassen. Ein Gewitter.
»Das sieht böse aus«, sagte Delorme. »Ich denke, es sollte Parry Sound erwischen und nicht uns.« Normalerweise schreckten Unwetter sie nicht, doch dieses hier brach so unerwartet und plötzlich herein, und die Veränderung der Lichtverhältnisse war dramatisch
Cardinals Gesichtsausdruck beziehungsweise dessen Ausdruckslosigkeit veränderte sich nicht, und er sagte kein Wort. Er hielt sich die ganze Zeit knapp ans Tempolimit und fuhr, ohne ein Wort darüber zu verlieren, erst langsamer, als es zu schneien begann. Die ersten Flocken waren groß und schaukelten wie Blätter im Wind. Doch mit zunehmender Kälte wurden die Flocken kleiner und fielen in schrägen Linien zu Boden.
Delorme war noch nie am Black Lake gewesen, hatte bis zu diesem Morgen auch noch nie davon gehört. Sie hatte den See gegoogelt und festgestellt, dass es nicht viel mehr als ein schwarzer Fleck inmitten einer weißen Fläche war, ein Punkt auf einer leeren Seite. Nur dass es sich bei der Seite um Wald handelte.
Sie wusste nicht einmal, wie Cardinal das Schild gesehen hatte, so klein und schneebedeckt, wie es war, doch er verließ den Highway und fuhr auf eine Straße, die unter dem Schnee tiefe Furchen aufwies.
»Was für Geländewagen«, sagte sie und stützte sich am Armaturenbrett ab.
»Hier kommen eine Menge Leute raus«, sagte Cardinal. »Die Gegend ist bei Jägern beliebt.«
»Aber nicht bei diesem Wetter.«
Der Wagen holperte so heftig, dass Cardinal nur noch im Schneckentempo weiterkam. Der Schnee fiel so dicht und fein, dass man glaubte, man hätte Nebel vor Augen.
Cardinals Handy klingelte, und er zog den Reißverschluss seiner Winterjacke auf, um hineinzugreifen. Er sah aufs Display, doch in dem Moment stießen sie auf eine Bodenwelle, und er musste das Lenkrad festhalten. »Es ist Chouinard. Geh du ran.«
»Wo stecken Sie?«, fragte Chouinard. »Und wo ist Cardinal? Wieso erreicht man Sie nicht über Funk?«
»Wir fahren gerade in Johns Wagen zum Black Lake raus.«
»Das ist aber schade – dann verpassen Sie beide die große Show. Der Verdächtige wurde auf der 124 gesichtet, große Pelzfarm da unten. Ein Sondereinsatzkommando von der OPP müsste in ungefähr einer Viertelstunde dort sein.«
»Verdammt«, sagte Delorme, »das schaffen wir nie. Einen Moment, bitte.« Sie sagte Cardinal, was los war, und fragte ihn, was er zu tun gedachte.
»Jetzt sind wir schon mal hier draußen, da können wir ebenso gut Kreeger befragen. Falls er Winston von früher kennt, könnte das vor Gericht nützlich sein.«
Delorme gab seine Auskunft an Chouinard weiter.
»Dann bleiben Sie am Ball«, sagte der DS. »Ach so, und halten Sie die Augen offen – wir haben eine Meldung zu zwei vermissten Jägern. Tony und Gary Burwell. Als
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