Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eismord

Eismord

Titel: Eismord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giles Blunt
Vom Netzwerk:
freundlichem Ton. Nur die Bitte um eine Auskunft.
    »Henry.«
    »Henry? Ist das dein ursprünglicher Name? Du bist Indianer, nicht wahr?«
    »First Nations.«
    »Ah, First Nations«, sagte der Mann mit einem tiefen Seufzer, als hätte diese Erkenntnis eine lange, ermüdende Suche beendet. »Hat nicht viel Indianisches, der Name, Henry.«
    »Ich auch nicht.«
    Der Mann verschränkte die Arme auf dem Tisch und beugte sich vor, um Henrys Gesicht zu mustern. »Lass mich raten. Aus dem Reservat abgehauen. Den Lichtern der Großstadt gefolgt. Gemerkt, dass du gegen das Feuerwasser nicht immun warst. Hierher zurückgekrochen, um trocken zu werden.«
    »Die Reihenfolge stimmt nicht ganz. Der Traubensaft kam zuerst. Und ich hab das Reservat nicht verlassen, sondern sie haben mich rausgeschmissen.«
    »Ist der alte Mann da oben allein?«
    Henry schüttelte den Kopf. »Er hat mich.«
    Der Mann lehnte sich zurück, so dass der Stuhl knarrte. »Er ist also allein.«
    »Würde es was ausmachen, wenn ich Ihnen sage, dass er eine Handvoll Bodyguards mit vierundvierziger Magnums hat?«
    »Nein.«
    Der Teenager lehnte sich mit undurchdringlicher Miene an die Arbeitsplatte beim Kühlschrank. Der junge Mann trat aus Henrys Blickfeld, doch er war so nah, dass Henry seinen Atem im Nacken spürte.
    Der Mann, der ihm gegenüber am Tisch saß, ließ Henry nicht aus den Augen, und sein Ausdruck – so etwas wie Interesse, nicht mehr – blieb vollkommen unverändert, als die letzten drei Worte aus seinem Mund kamen, die Henry in seinem Leben hören sollte: »Leg ihn um.«
     
    Lloyd hörte den Schuss und ließ sein Buch auf den Schoß sinken. Das Gräusch war in der Nähe gewesen. Er wohnte hier draußen weit von der Stadt entfernt, doch im Winter verschlug es den einen oder anderen Jäger in die Gegend. Ihre seltenen Schüsse hörten sich gewöhnlich an wie das Knacken eines Zweigs, und das auch nur tagsüber.
    Er steckte sein Lesezeichen in den Roman, klappte ihn zu und legte ihn auf den Beistelltisch. Er hievte sich aus dem Sessel und trat an das Panoramafenster. Die schweren Gardinen waren zugezogen – nicht deshalb, weil hier draußen jemand seine Privatsphäre verletzen könnte, sondern weil in den strengen Wintermonaten selbst die Doppelverglasung vor der Kälte von Nord-Ontario keinen ausreichenden Schutz bot. Lloyd öffnete sie ein Stück weit, so dass er die Kälte im Gesicht spürte, und sah hinaus.
    In der Baracke waren die Lichter eingeschaltet. In Henrys kleinen Fenstern waren die Gardinen zugezogen, und Henrys Schatten bewegte sich deutlich sichtbar dahinter. Lloyd rechnete damit, dass er jeden Moment auf die Eingangsstufen heraustrat, um nachzusehen, was los war, doch das tat er nicht. Da draußen war nicht viel mehr zu sehen als die dünne Schneeschicht zwischen Haus und Hütte und Henrys Fußspur darin.
    Lloyd ließ die Vorhänge wieder zufallen, kehrte an seinen Platz zurück, um die Leselampe und anschließend das Licht in der Küche auszuknipsen. Danach schaltete er die Außenlampen ein. Nichts. Nichts auf dem Landesteg. Nichts am Bootshaus. Und nirgendwo irgendwelche Spuren. Nur der weiße Schnee und die reglosen Bäume und das nahe Ufer des zugefrorenen Sees. Die Schneewolken hingen tief. Weder Mond noch Sterne. Hinter dem See ging die Welt in der Dunkelheit unter.
    Lloyd knipste die Außenlichter aus, kehrte zu seinem Sessel, seiner Leselampe und seinem Buch zurück und machte es sich wieder bequem. Jäger. Das Einzige, was man um diese Jahreszeit legal jagen konnte, waren Fasan und Kaninchen, und selbst die passioniertesten Jäger tun das normalerweise nicht in einer mond- und sternenlosen Nacht. Gelegentlich ballerten sie nach ein paar Bier zu viel mit ihren Schrotflinten herum, nur um Lärm zu machen und die Dunkelheit zu vertreiben.
    Doch er hatte den ganzen Tag über weder Trucks noch Schneemobile oder sonst etwas gehört.
    Er öffnete wieder sein Buch.
Bleakhau
s von Charles Dickens. Neben dem Bau von Algonquin Lodge hatte Lloyd sich vorgenommen, die gesammelten Werke von Charles Dickens zu lesen. Zu seiner Überraschung hatte er erfahren, dass Henry Dickens’ Romane sehr gut kannte. Auch wenn er den Gedanken, was daran überraschend sein sollte, lieber verdrängte. Vermutlich ein reines Vorurteil.
    Jedenfalls bestellte er, seit er das wusste, zwei Exemplare der Bücher im Online-Versandhandel, und sie beide unterhielten sich fast jeden Tag über die Figuren. Henry war ihm bei
Bleakhaus
ein Stück voraus,

Weitere Kostenlose Bücher