Eismord
deine Existenz zur Kenntnis«, sagte er zu Sam und wandte sich wieder seinem Spiel zu.
»Ist er nicht reizend?« Sams Mutter war eine kleine, zierliche, immer noch attraktive Frau, die bei der Schulbehörde als Ernährungsfachfrau arbeitete und das Essensangebot der Kantinen an den örtlichen Highschools überwachte. Der Job war nicht so anstrengend wie der letzte als Köchin, doch am Ende eines Arbeitstags sah auch sie erschöpft aus. »Ich wünschte, dein Vater käme nach Hause«, sagte sie wehmütig, »ich weiß nicht, wieso er immer unbedingt in der Wildnis herumwandern muss.«
»Das verbindet ihn mit der Welt der Geister.«
Ihre Mutter lachte. »Er glaubt kein Wort von dem Kram. Keine Ahnung, wieso er ständig davon anfängt.« Sie griff nach einer Fernbedienung und schaltete den Fernsehapparat auf der Arbeitsplatte ein.
In den Nachrichten waren die Morde immer noch das beherrschende Thema. Sie zeigten Bildmaterial vom Haus und vom Government Dock, das Sam schon kannte.
Als die Sprecherin die Namen der Opfer nannte, dachte Sam, klar, die Frau hatte einen Akzent. Zum Schluss sagte die Sprecherin, die Polizei bitte um sachdienliche Hinweise, und nannte die Telefonnummer von Crime Stoppers International.
»Was hättest du denen denn zu erzählen?«, wollte Randall wissen. »Du weißt doch gar nichts. Du hast nichts gesehen. Und ganz offensichtlich rettest du jetzt auch niemandem mehr das Leben.«
»Außer vielleicht meines«, erwiderte Sam. »Er hat mich gesehen, Randall.«
»Aber nur von weitem. Er hat deinen Wagen von weitem gesehen, hast du gesagt. Im Dunkeln. Da draußen gibt es nicht mal Straßenlaternen.«
»Es gibt eine an der Zufahrt zum Kraftwerk – genau da, wo mein Wagen stand.«
Randall war auf der Heimfahrt. Im Hintergrund hörte sie Verkehr und sein Autoradio.
»Sam, du rufst doch nicht von zu Hause an, oder?«
»Ich sag doch, ich hab mein Handy verloren. Ich hab Angst, mit dem Auto zu fahren, und die nächste Telefonzelle ist drei Meilen entfernt.«
»Mein Gott! Du spielst Poker mit meinem Leben. Ich hab dir gesagt, ich ruf dich an.«
»Hast du nicht. Falls dieser Irre mein Handy hat, findet er mich, darauf kannst du Gift nehmen. Der Typ schlägt Köpfe ab, Randall. Ich hab ’ne Scheißangst.«
»Es gibt überhaupt keinen Grund, wieso er dich ausfindig machen sollte. Wahrscheinlich ist er längst nicht mehr im Land. Vermutlich ist er nach Tschechien oder Brooklyn oder wer weiß wohin abgehauen.«
»Er klang nicht wie ein Ausländer. Die Frau ja, aber er nicht. Siehst du, das ist zum Beispiel etwas, das die Cops nicht wissen. Und falls er tatsächlich mein Handy hat, können sie ihn darüber vielleicht finden. Du weißt schon, es lokalisieren.«
»Sitze es einfach aus, Sam. Überlass die Ermittlungen den Cops.«
»Und wann können wir uns sehen?«
»Offensichtlich vorerst nicht. Ich meine, für den Moment ist mir die Lust vergangen, mich in leere Häuser zu schleichen, dir etwa nicht?«
»Wir brauchen ja nicht miteinander zu schlafen. Ich möchte nur in deiner Nähe sein. Ich brauche dich, Randall. Kannst du das denn nicht verstehen?«
»Natürlich. Wir müssen jetzt nur auf der Hut sein, Sam. Wir können es uns nicht leisten, die Helden zu spielen. Es steht zu viel auf dem Spiel. Okay, ich biege gerade in unsere Straße ein. Ruf mich nicht an. Du weißt, dass ich verrückt nach dir bin, Sam. Ich ruf dich bei dir zu Hause an, sobald es geht.«
Für den Rest des Abends versuchte Sam, sich abzulenken, indem sie an Loreena Moon weiterarbeitete. Eine Serie von Nachtszenen, in der sich Loreenas dunkle, geschmeidige Gestalt scharf vom weißen Schnee abhob. Der Mond schien durch die Bäume und blitzte auf den Silberspitzen ihrer Pfeile. Die grünäugige Höllenkatze auf der ewigen Suche nach Gerechtigkeit. Ab und zu hörte Sam einen kurzen Aufschrei ihres Bruders bei einem Punktgewinn oder Rückschlag auf seinem Cyber-Schlachtfeld.
Ihre Mutter ging, da sie Migräne hatte, früh zu Bett. Sam schloss sich mit dem Mullverband und Franzbranntwein ins Badezimmer ein. Der Schnitt an ihrem Knie verheilte an den Enden, war aber in der Mitte immer noch offen. Es würde eine Narbe zurückbleiben, und sobald sie das erste Mal wieder Shorts trug, würde ihre Mutter fragen, wie das passiert sei und warum sie es für sich behalten hätte. Es war eine Sache, sich ab und zu in die geheime Welt von Loreena zu flüchten, doch Sam gefiel es nicht, wie sich ihr eigenes Leben derzeit in zwei
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