Eismord
hatte,
sie
würde
ihn
nicht lieben. Als Ali zurückkam, lag das neue Steak auf dem Teller, diesmal fast blutig.
»Ist es halb durch?«
»Das letzte war halb durch. Sag Geoff, er soll seine Seezunge in Mandelsoße abholen, die steht schon seit fünf Minuten hier.«
Um zehn Uhr rief ihre Mutter an. »Kann dich nicht jemand mit nach Hause nehmen? Ich hab’s nicht gern, wenn du so spät mit dem Bus kommst.«
»Geht schon in Ordnung. Ich liege gut in der Zeit, ich muss also nicht lange warten.«
»Was genau stimmt eigentlich mit deinem Wagen nicht?«
»Der hat Asthma oder so. Er springt nicht an. Ich muss Schluss machen, Mom, hier ist wirklich viel los.«
»Alles klar, Schatz. Dann gute Nacht.«
Jerry Wing kam im Parka herüber. »Du musst das Preiselbeergelee machen.«
»Schon fertig.« Sam zeigte auf die zwei Schüsseln auf ihrem Hackbrett. »Ich stell sie kalt, bevor ich gehe.«
»Du hast sie schon fertig?« Obwohl es in der Küche dreißig Grad haben musste, zog sich Jerry die Kapuze hoch, so dass ihr unter dem Pelz hervor nur noch chinesische Augen entgegenblinzelten.
»Sicher, dass du warm genug angezogen bist?«, fragte sie. »Damit frierst du nicht mal in Inuvik.«
»Ich bin nicht für dieses Klima geschaffen.« Zum Abschied hob er einen Fausthandschuh. Sam war froh, dass er ihr nicht mehr grollte. Zumindest erleichtert.
Wenn man ein leidenschaftliches Naturell hat, dachte sie, ist man eigentlich immer der Dumme. Selbst wenn man sich glücklich fühlt, ist es eher so was wie Erleichterung – Erleichterung darüber, dass man nicht das Gegenteil erlebt. Den Stachel von Jerrys Ärger. Die Qual, falls Randall mit ihr Schluss machte. Es ist das Glück darüber, nicht von der Klippe zu stürzen. Ist Loreena Moon glücklich? Nein. Weil Loreena Moon niemanden liebt. Loreena macht sich auch keine Gedanken darüber, dass sie von Klippen fallen könnte.
Sam sah auf die Küchenuhr. Viertel nach elf. Sie hatte genau drei Minuten, um den Bus zu bekommen. Sie verschwand in die Vorratskammer und zog sich um, schlüpfte in ihren Mantel, rannte zur Tür hinaus und dann über den Parkplatz, so dass sie buchstäblich in der letzten Minute an der Haltestelle war. Es schien nicht mehr so kalt zu sein wie vorher. Der Schnee war geschmolzen, so dass der Parkplatz und der Highway schwarz unter den Straßenleuchten schimmerten.
Der Bus war überheizt. Sam setzte sich in die Nähe des Ausgangs in der Mitte. Nach der Küchenarbeit und ihrem Sprint lief ihr der Schweiß herunter. Sie wischte einen Halbkreis in der beschlagenen Scheibe sauber und lehnte den Kopf ans kühle Glas. Die Schnellimbisslokale und Einkaufszentren glitten wie übertrieben hell erleuchtete Oasen an der nassen, dunklen Straße an ihr vorbei. Außer ihr gab es nur noch drei andere Fahrgäste, die auf dem Weg durch die Stadt einer nach dem anderen ausstiegen – lange bevor der Bus das Lagerhaus von Fur-Harvesters-Kaufhaus passierte und in die Nähe des Reservats Nipissing kam.
Sie stieg an der Abzweigung aus. Die Kreuzung war hell erleuchtet, doch dann kam ein Stück an der Zufahrtsstraße, an der die Laternen in großen Abständen standen, bis man die eigentliche Wohngegend erreichte. Ihr ganzes Leben hatte es Sam nichts ausgemacht, diese Straße entlangzulaufen, nicht einmal nachts, doch jetzt hatte sie Angst. Sie lief zügig und versuchte, sich in Loreena hineinzuversetzen. Cool. Tapfer. Nicht tapfer – unerschrocken. Sie machte sich recht gut, atmete bei einer einigermaßen langsamen Herzfrequenz fast normal, bis sie an eine leichte Steigung und zugleich um eine Kurve kam, wo sie den Wagen auf dem Seitenstreifen sah.
Sie blieb stehen. Ein Geruch von Bäumen und nasser Straße. Das Geräusch der Lkw auf dem nahe gelegenen Highway.
Das ist nichts weiter als ein Auto, sagte sie. Das Licht ist ausgeschaltet. Es ist keiner dort drinnen. Das da sind Kopfstützen.
Sam wechselte auf die andere Straßenseite. Mut würde sich in ihrem Tugendkatalog ja gut machen, aber wenn er gerade vergriffen war, tat’s auch Vorsicht. Sie lief weiter und sah an der Kuppe bereits die Lichter ihrer Straße.
Sie befand sich fast auf gleicher Höhe mit dem Wagen. Warf einen Blick hinein. Ja. Leer. Sie schwor sich, im Vorübergehen nicht noch einmal den Kopf zu wenden. Sie würde aus dem Augenwinkel heraus auf das Fahrzeug achten, aber nicht wirklich hinübersehen.
An den Schwur brauchte sie sich nicht lange zu halten. Die Fahrertür ging auf, und ein Mann stieg
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