Eismord
aus – ein richtig großer Mann. Er musste sich geduckt haben, sonst hätte sie ihn gesehen. Sein Gesicht verbarg sich hinter etwas Schwarzem aus Wolle, in das für Augen und Mund Löcher hineingeschnitten waren.
»Komm her.« In seiner Hand baumelte etwas Langes aus Metall.
Sie rannte los.
Seine Schritte waren dicht hinter ihr und so schnell wie ihre. »Du hast nichts gesehen«, sagte er. »Du hast nichts gesehen. Du weißt gar nichts.«
Etwas schnitt von hinten in Sams Mantel. Sie rannte weiter, zwang ihre Beine, schneller zu laufen. Sie überlegte, ob sie mit wenigen Sätzen zu den Bäumen rennen sollte – da konnte er ihr vielleicht nicht so leicht folgen –, doch sie blieb mitten auf der Straße und betete um Lichter, ein Auto, irgendwelche Leute.
Er war nicht mehr hinter ihr. Sie hörte, wie der Motor ansprang, dann warfen seine Scheinwerfer ihren langen Schatten bis zur Kuppe hinauf. Plötzlich schrumpfte ihr Schatten. Sie tat so, als wollte sie nach links, schlug aber einen Haken nach rechts, in die Dunkelheit der Bäume.
Sie würde es nicht schaffen. Er würde sie überfahren. Sie hielt an und wich nach links aus, und der Wagen schnitt ihr den Weg ab. Er war wieder ausgestiegen und hinter ihr her.
Beine, Lunge, Herz, alles am Limit. Sie konnte einfach nicht schneller laufen. Ihre Straße lag vor ihr, und sie tat so, als liefe sie daran vorbei, um blitzschnell nach rechts abzubiegen. Ihr Haus war das dritte rechts. Sie rannte daran vorbei bis zum vierten, fünften, wich erneut nach rechts aus und landete im Garten von Cal Couchie. Lieber alter Mann, aber ungefähr zweihundert Jahre alt und stocktaub.
Sam rannte an der Rückseite der Häuserzeile zu ihrem eigenen Garten. Sie hatte die Schlüssel in der Hand. Den Mann hinter sich konnte sie nicht mehr hören. Sie sollte vielleicht in der Dunkelheit des Gartens bleiben und um Hilfe schreien, aber dann stand er womöglich im nächsten Moment hinter ihr. Sie zog das Handy ihrer Mutter heraus und wählte den Notruf. Es klingelte drei Mal, bevor sich jemand meldete.
»Notrufzentrale, nennen Sie bitte Ihren Standort.«
»1712 Commanda Crescent. Ich werde von einem Mann verfolgt.«
»Können Sie bitte lauter sprechen? Ich hab Sie nicht verstanden.«
»Mein Gott. 1712 Commanda Crescent. Schicken Sie sofort jemanden her. Der bringt mich um.«
Sie steckte das Handy wieder in die Tasche und spähte um die Ecke der Garage. Niemand.
Sie pirschte sich zur Seitentür, und er kam von der Vorderseite, schwarz und gesichtslos. Bis ins Haus würde sie es nicht schaffen. Sie wirbelte zurück Richtung Garage, steckte den Schlüssel ins Schloss, bekam die Tür auf, stürzte hinein und schloss in dem Moment von innen ab, als er sich mit einem so lauten Knall dagegen warf, dass sie schrie. Es hörte sich allerdings nicht wie ein Schrei, sondern wie ein Laut ihrer Katze an. Er würde es nicht schaffen, diese Tür aufzubrechen, das schafften sie nur im Kino, oder? So leicht bricht man Türen nicht auf.
Sie hörte ein splitterndes Geräusch und erinnerte sich an dieses lange Ding, das er bei sich hatte. Ein Brecheisen vermutlich.
In der Garage war es dunkel, doch sie hatte Angst, Licht zu machen. Sie tastete sich zur anderen Seite des Wagens. Nicht abgeschlossen, Gott sei Dank. Sie öffnete die Beifahrertür, und die Innenbeleuchtung ging an – gerade hell genug, um darin die Werkbank ihres Vaters und die Hämmer, Sägen, Schraubenschlüssel zu erkennen.
Wieder dieses splitternde Geräusch.
Sie schloss die Wagentür und schlich im Dunkeln zur Werkbank, kletterte hinauf, so dass es ihr heiß durch ihr verletztes Knie zuckte. Sie tastete die Wand ab und holte die Armbrust herunter, bevor sie rechts davon den Lederköcher fühlte. Sie huschte hinter den Wagen, legte einen Bolzen in die Rille und zog ihn zurück, bis ihr ein lautes Klicken sagte, dass er gespannt war. Die Vixen hatte eine automatische Sicherung, die sie jetzt in die Off-Stellung drückte.
Sam sah es im Geist vor sich, bevor es passierte. Sie wusste, wie es aussehen würde – dunkle Silhouette vor dem blassen Licht des Mondes und der Straßenlampen. Dann würde er den Lichtschalter finden und sie töten.
Die Tür ging krachend auf. Die dunkle Gestalt. Sam stand auf und schoss den Pfeil ab. Der Mann krümmte sich und gab einen Laut von sich, als würde er sich übergeben. Er stürzte nach hinten, stand auf, taumelte, fiel gegen die Garage. Dann entfernten sich seine Schritte – unregelmäßig,
Weitere Kostenlose Bücher