Eismord
dieses Thema erwärmte, konnte Papa zum Poeten werden.
Heute allerdings kam die Poesie nach dem, was über den Vorfall im Wald durchgedrungen war, nicht recht an. Lemur war der Einzige, der reagierte, und Nikki stand absolut nicht der Sinn danach, zu reden.
Lemur begeisterte sich für Hudson-Bay-Decken. Er hatte im Internet farbige Wolldecken recherchiert und war schließlich auf diesen Namen gestoßen. Er war ganz und gar dafür, einen riesigen Vorrat anzulegen.
Papa hatte ein winziges Notizbuch, das er immer bei sich trug. Es wurde mit einem Gummiband geschlossen und hatte ein Bändchen wie bei einer Bibel, um Kapitel und Vers wiederzufinden. Er machte sich stets Notizen, wenn jemand eine gute Idee hatte, und sie alle liebten es, wenn er dieses Büchlein zückte und mit diesem Bleistiftstummel, den er ebenfalls immer griffbereit hatte, etwas aufschrieb.
»Was ist das da an deinem Arm?« Papa sah in sein Notizbuch, doch es war klar, mit wem er sprach.
»Meinst du mich?«, fragte Jack.
»Du hast einen Abdruck an deinem linken Unterarm.« Papa klappte das Notizbüchlein zu, spannte das Gummiband darum und steckte es zusammen mit dem Bleistift in die Tasche. »Wie ist das passiert?«
»Keine Ahnung. Ist nichts weiter.«
»Jack, das ist ein Bissmal. Wie kommst du an ein Bissmal am Unterarm?«
»Das ist kein Bissmal. Ich bin im Wald hingefallen. Muss wohl gegen irgendwas geschlagen sein.«
»Du hast versucht, über Nikki herzufallen, stimmt’s?«
Nikki meldete sich zu Wort. »Wir haben nur einen Ringkampf gemacht. Ich hab die Griffe geübt, die du mir gezeigt hast. Wahrscheinlich hab ich mich ein bisschen hinreißen lassen.«
Papa sprach so leise, dass sie die Ohren spitzen musste. »Du versuchst, ihn in Schutz zu nehmen. Vielleicht hältst du das für Loyalität, aber das ist es nicht. Wenn jemand der Familie in den Rücken fällt, dann bist du, wenn du ihn verteidigst, nicht besser als er. Verstehst du? Ich weiß, du bist jung, aber du musst das begreifen.«
»Okay.«
»Jack, du hast versucht, Sex mit deiner Schwester zu haben.«
»Ich hatte keinen Sex mit ihr – und sie ist auch nicht meine Schwester. Du hattest hier vor uns allen Sex mit Lemur.«
»Nikki ist noch keine sechzehn, somit noch ein Kind. Außerdem war das, was ich mit Lemur getan habe, eine Übung.«
»Sicher, vielleicht wollen wir anderen ja auch ab und zu ein bisschen üben. Kind? Schwester? Sie ist es nicht einmal wert, in dieser Familie zu sein. Warst du etwa nicht dabei, als dieses sogenannte Kind uns erzählt hat, dass sie in einem Monat den Rekord aufgestellt und fünfundsiebzig Männern einen geblasen hat? Dieses Mädchen hat mit hundertsiebenundsechzig Männern gefi… Sex gehabt, und dabei wusste sie nicht mal, wer die Kerle waren. Sie hat es mit einem deutschen Schäferhund getan, während ein Haufen Besoffener sie angefeuert hat. Und du meinst, sie ist zu gut für mich? Wo ist eigentlich
deine
Loyalität?«
»Wenn du in diese Familie kommst,
wirst
du würdig«, sagte Papa. »Das Einzige, was zählt, ist das, was wir
jetzt
tun. Wie wir uns jetzt gegenseitig behandeln. Du wirst diese Familie nicht ruinieren, Jack.«
»Du ergreifst nicht nur gegen deine sogenannte rechte Hand für eine Hure Partei, sondern dir scheint auch entgangen zu sein, dass dieses arme Mädchen ein Gesicht hat, vor dem ein Mack-Truck vor Schreck eine Notbremsung machen würde. Sie kann nur froh und dankbar sein, wenn irgendjemand sie überhaupt anrühren
will.
Wann soll denn sonst jemand, der nicht vollkommen irre ist, Hand an sie legen? Ich meine,
sieh
sie dir doch
an.
«
Im Wald hatte Nikki ihn getreten und mit Fäusten traktiert. Als er nicht aufhören wollte, hatte sie ihn schließlich gebissen. Erst da hatte er losgelassen, und sie war ihm entwischt. Sie konnte nur nicht begreifen, wieso seine Worte sie so verletzten. Sie drückte das Kinn an die Brust, um nicht zu weinen, brachte aber auch kein Wort heraus.
Papa wechselte von einer Sekunde zur anderen den Ton. »Wie sind deine neuen Stiefel, Nikki?«
Nikki wusste nichts darauf zu sagen.
»Ich hab gemerkt, dass du beim Laufen dein rechtes Bein schonst. Drückt es irgendwo?«
»Ein bisschen.« Sie hielt den Kopf immer noch gesenkt, während sie schnüffelnd gegen die Tränen kämpfte. Sie wussten trotzdem alle, dass sie weinte.
»Warte hier«, sagte Papa. »Jack, ich bin jetzt fertig, aber bitte habt alle noch einen Moment Geduld.« Er stand vom Tisch auf, ging in die Küche und wühlte,
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