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Eismord

Eismord

Titel: Eismord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giles Blunt
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Abtransport zuständigen Kollegen verfrachteten die Leiche für die Fahrt zum Forensischen Institut in Toronto auf die Ladefläche.
    »Und was könnte sich hier deiner Meinung nach abgespielt haben?«, fragte Delorme Cardinal. »Eine Art Bürgerwehr?«
    »Woher hätte so jemand wissen können, dass der Junge es zum zweiten Mal auf diesen Automaten abgesehen hat? Wussten wir schließlich auch nicht.«
    »Zumindest haben wir es für möglich gehalten. Vielleicht war es so was wie ein Zufallstreffer.«
    »Nicht sehr wahrscheinlich.«
    Sie überließen den Leichenfundort der Spurensuche und fuhren zum Revier zurück. In der Stille des leeren Konferenzraums schob Cardinal das Video der Überwachungskamera ins Abspielgerät und setzte sich neben Delorme, um es sich anzusehen. Körnig, in einigen Sequenzen dunkel, in anderen verschwommen. Stella McQuaig tritt an den Automaten, zieht ihr Geld, steckt die Scheine in ihre Brieftasche und dreht sich um. Kein Räuber. Kein Mörder. Nicht einmal ein Schatten.
    »Vielleicht war es so was wie ein irrer Zufall. Guter Samariter«, sagte Delorme. Im leeren Raum klang ihre Stimme laut. »Kommt zufällig vorbei und sieht, dass die Frau in Schwierigkeiten ist, jagt den Jungen in die Gasse. Der Junge zieht die Waffe, und – peng – der Kerl erwischt ihn zuerst.«
    »Aber deine Zeugin hat sonst niemanden gesehen oder gehört.«
    »Hast recht.« Delorme griff zur Fernbedienung, drückte auf einen Knopf, und der Bildschirm war dunkel. »Außerdem – so, wie er frontal ins Gesicht getroffen wurde, sieht es eigentlich mehr danach aus, als hätte ihn jemand von vorn angehalten. Als wäre derjenige von der anderen Seite gekommen. Oder hätte dort auf ihn gewartet.«
    Die Neonleuchten gingen aus, und Delorme schrie gleichzeitig mit Cardinal: »Hey!« Die Lichter flackerten wieder auf, und jemand im Flur rief: »’tschuldigung!«
    »Falls der Mörder auf ihn gewartet hat«, meinte Cardinal, »würde das auf jemanden hindeuten, der mit ihm zusammenarbeitet. Vielleicht hatten sie Streit.«
    »Nur dass keines der Opfer einen Komplizen erwähnt hat und auch sonst nichts darauf schließen lässt. Würde schon helfen, wenn wir auch nur den geringsten Anhaltspunkt hätten, wer der Junge war. Wir wissen ja nicht mal, ob er aus der Gegend stammt. Ziemlich schwierig, sich einen Reim auf das Ganze zu machen. Was ist? Wieso siehst du mich so an?«
    »Ach, nichts«, antwortete Cardinal. »Ich hab mich nur an etwas erinnert, was die Russin gesagt hat – darüber, dass man Menschen nicht verstehen muss.«
    »Diese Russin«, erwiderte Delorme, »hat ein Sparky-Noone-Problem.«

[home]
    24
    Z um ersten Mal in ihrem jungen Leben erlebte Nikki Stille: In diesem nagelneuen Gebäude mitten in den kanadischen Wäldern knarrte und klapperte nichts wie in älteren Häusern. Draußen fuhren keine Autos, Laster oder Schiffe vorbei, flogen keine Düsenjets darüber. Es gab fast keine wilden Tiere. Vor einigen Nächten hatte ein Eichhörnchen oder so was auf dem Dach über ihrem Schlafzimmer gescharrt und hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Tagsüber mochte sie die Stille, doch nachts war sie ihr unbehaglich. In regelmäßigen Abständen machte der Heizofen ein dumpfes Geräusch, auf das ein leises Zischen aus dem Ventil folgte, dann nichts. Wie sollte man sich entspannen, wenn man jedes bisschen hörte – das Kratzen seines Fingernagels auf dem Kissen, eine Haarsträhne, die einem in die Stirn fiel.
    Und dann die Dunkelheit. Bis jetzt hatte sie keine Ahnung gehabt, was Dunkelheit bedeutete. Wenn sie in ihrem Schlafzimmer das Licht ausschaltete, war es, als wäre sie plötzlich blind. Sie wünschte sich eines von diesen kleinen Lämpchen, die man direkt in die Steckdose schiebt, doch sie traute sich nicht, Papa darum zu bitten und wie ein Weichei dazustehen. Heute Nacht war der Mond wenigstens hell genug, um Schatten zu werfen. Sie hielt im Bett die bleich schimmernde Hand in die Höhe, drehte sie und bewunderte den Schatten, den sie warf – elegant und schlank, der Arm einer Ballerina, der Hals eines Schwans.
    Sie setzte sich im Schneidersitz hin und schob sich die Kissen im Rücken zurecht. Ihre Füße verströmten immer noch einen Duft nach Lavendel und Zitrone. Sie hielt sie einzeln hoch und strich mit den Daumen darüber – die Sohlen fühlten sich weicher als gewöhnlich an. Papas Fußwäsche hatte tief in ihrer Brust etwas zum Klingen gebracht, als wäre dort ein Instrument versteckt – keine Harfe,

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