Eismord
Boden auf und komm unter die Decke, aber halte gut dreißig Zentimeter Abstand zu mir. Respektiere meinen Freiraum so wie ich deinen.«
Sie tat, was er sagte.
»Dein ganzes Leben lang hat man dir mit Sex Schaden zugefügt, Nikki. Weißt du noch, was ich an dem Abend zu dir gesagt habe, als ich dich heimgebracht habe? Dass ich dir nie Schaden zufügen würde? Das werde ich auch nicht, nicht mal, wenn du mich darum bittest.« Er legte eine kleine Pause ein. »Was ist? Was denkst du? Ich sehe es dir an deinem perfekten kleinen Gesicht an.«
»Ich war noch nie mit einem Mann im Bett, der keinen Sex wollte. Ich wollte mich nicht schlecht benehmen. Ich wollte dir nur etwas zurückgeben. Für das, was du heute Nachmittag getan hast.«
»Du hast mir erlaubt, dir die Füße zu waschen. Das hat mir viel Freude gemacht, ich habe meinen Dank also längst bekommen. Du schuldest mir nichts. Was ist das denn jetzt? Weinst du?«
Sie schüttelte den Kopf, verschränkte die Arme und brachte keinen Ton heraus. Er fragte sie wieder, was los sei, und sie drehte sich zur Seite und heulte los. Er legte ihr einen Karton Kleenex-Tücher auf den Schoß, ließ sich zurücksinken und wartete, bis sie sich beruhigt hatte.
Als sie wieder reden konnte, war ihr die eigene Stimme fremd. Tiefer und reifer. »Du hast keine Ahnung, wie glücklich du mich gemacht hast. Noch nie hat mich jemand so glücklich gemacht.«
Sie weinte noch ein bisschen, und er wartete, geduldig, wie es seine Art war. Ohne sie zu ignorieren, wartete er einfach ab. Sie drehte sich, das Gesicht ihm zugewandt, auf die Seite und sagte: »Bist du Jesus?«
Der Hauch eines Lächelns spielte um seinen Mund. »Was meinst du?«
»Ich denke, möglich wär’s. Du müsstest es nicht mal unbedingt selber wissen. Du könntest eine Reinkarnation oder so was sein.«
Sie sprachen lange nicht. Draußen fuhr laut vernehmlich der Range Rover vor, und die Tür krachte zu. Eine Minute später durchquerte Jack mit großen Schritten die Küche. Er ging ins Badezimmer, ließ Wasser laufen und putzte sich die Zähne, dann ging die Badezimmertür wieder auf und zu.
»Das ist Jack«, sagte Nikki. »Ist Lemur immer noch nicht zurück?«
»Nein.«
»Was ist eigentlich mit der Baracke? Neulich war ich nur auf der Eingangstreppe, und Lemur hat gebrüllt, ich soll da weggehen. Er hat richtig gebrüllt. Dabei hab ich nicht mal reingesehen.«
»In der Baracke ist Material, das dich nichts angeht. Es ist besser für dich, wenn du nichts davon weißt. Ich möchte, dass du mir einfach traust und dich da fernhältst.«
»In Ordnung. Ich würde alles für dich tun, Papa. Ich glaube ehrlich, ich würde alles tun, worum du mich bittest.«
»Nichts von dem, was wir tun, dreht sich um mich. Es dreht sich um die Familie. Unser Überleben. Weißt du, ich hatte Glück. Ich bin in einer guten Familie aufgewachsen. Leider sind sie gestorben, als ich noch sehr jung war – nicht viel älter als du –, und ich hab mir geschworen, wenn ich irgendwie kann, eines Tages die glückliche Familie wieder zu erschaffen, die ich hatte. Natürlich ist daraus inzwischen etwas viel Größeres geworden, aber es ist immer noch meine Familie. Unsere Familie. Und ich kann dir nicht mit Worten sagen, wie glücklich ich bin, dich bei uns zu haben, Nikki. Mir fehlen die Worte.«
Nikki wachte früh auf. Draußen vor ihrem Schlafzimmerfenster war nicht das geringste Morgengrauen zu sehen. Nur Dunkelheit und das Licht der Sterne. Dunkelheit und Wald, die Äste der Bäume, die unter der Last des Schnees fast bis auf den Boden hingen. In der Küche murmelte ein Radio. Nikki zog die Gardine wieder zu, zog ihren Pyjama aus und schlüpfte in ihre Sachen. Sie öffnete die Tür, horchte einen Moment, was im Radio kam – alles drehte sich um Hockey –, und zog die Tür hinter sich zu. Sie ging die drei Stufen in den Essbereich hinunter. Papa saß am Kopfende des Tischs. Er hatte ein Gewehr quer über den Schoß und die Hände daraufgelegt.
»Guten Morgen«, sagte er. Seine Stimme klang seltsam. Sie schien irgendwie weit weg und unabhängig von Papa zu funktionieren. »Du bist ziemlich früh auf.«
»Ich konnte nicht schlafen. Irgendwas hat mich geweckt.«
»Mach dir Frühstück. Findest alles auf der Theke.«
Nikki schüttete Müsli in eine Schale und goss Milch darüber. Sie holte sich ein Glas und nahm sich aus einem Krug, der im Kühlschrank stand, Orangensaft. Dann stellte sie den Krug zurück. Mit der Schüssel in der
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