Eisnacht
ihn weiter. Sie hielten ihn wach, aufrecht, am Leben. Obwohl die ganze Zeit sein Verstand kreischte, endlich anzuhalten. Sich hinzulegen. Einzuschlafen. Zu kapitulieren.
Kapitel 22
Wieso? Weshalb? Warum ich?«
»Reg dich nicht auf!«, fuhr Wes seinen Sohn an. »Sie kommen nicht her, weil sie dir irgendwas vorzuwerfen haben.«
»Woher weißt du das?«
»Und selbst wenn, hast du nichts zu verbergen. Nicht wahr? Nicht wahr, Scott?«
»Ja.«
»Wieso flippst du dann so aus?«
»Tu ich gar nicht.«
So wie Dora es sah, tat er das sehr wohl.
Scott war übertrieben nervös vor dem Gespräch mit den FBI-Agenten. Seine Augen zuckten rastlos zwischen ihr und Wes hin und her, so als hätte er irgendwas angestellt und keineswegs nichts zu verbergen, wie er behauptete. Wes' berechnende Lässigkeit war genauso beunruhigend.
»Sie wollen lediglich ein paar Hintergrundinformationen über Millicent«, sagte Wes. »Dutch sagt, das ist reine Routine.«
»Sie könnten Hunderte von anderen Quellen nach Hintergrundinformationen über Millicent anzapfen«, sagte Dora. »Wieso wollen sie ausgerechnet mit Scott sprechen?«
»Weil er Millicents fester Freund war.«
»Letztes Jahr.«
»Ich weiß selbst, wann das war, Dora.«
»Sprich nicht in diesem Ton mit mir, Wes. Ich will damit sagen, dass Millicent eine Menge erlebt hat zwischen dem letzten Frühjahr, als sie und Scott sich getrennt haben, und letzter Woche, als sie verschwand. Wieso ist die Beziehung zu ihm so wichtig?«
»Das ist sie nicht, und genau das wird Scott ihnen persönlich sagen.« Er wandte sich an seinen Sohn und sagte: »Wahrscheinlich wollen sie nur wissen, wie lange du mit Millicent gegangen bist und warum ihr euch getrennt habt.« Wes sah Scott eindringlich an; Scott erwiderte seinen Blick.
Dora sah beide an und spürte sofort die unausgesprochene Verständigung. Sie hielten etwas vor ihr geheim, und dass sie ausgeschlossen wurde, machte sie wütend. »Scott, warum hast du damals mit Millicent Schluss gemacht?«
»Das hat er uns doch erzählt«, sagte Wes. »Die Beziehung hatte sich totgelaufen. Er wollte nicht mehr.«
»Ich glaube nicht, dass es nur das war.« Sie sah ihrem Sohn direkt ins Gesicht und fragte sanft: »Was ist damals passiert?«
Scott rollte mit den Schultern, als wollte er ihre Frage abschütteln. »Es war genau, wie Dad sagt, wir haben einfach, na ja, das Interesse verloren.« Dora zeigte wortlos ihren Zweifel. »Jesus, du glaubst mir nicht?«, schrie Scott sie an. »Warum sollte ich dich anlügen?«
»Vielleicht aus demselben Grund, aus dem du gestern Nacht aus dem Haus geschlichen bist.«
Er sah sie an, als hätte sie ihn mit einer Dachlatte zwischen die Augen geschlagen. Erst klappte er den Mund auf, dann klappte er ihn wieder zu, weil ihm offenbar aufgegangen war, wie zwecklos es war, das zu leugnen.
Sie wandte sich an Wes. »Heute Morgen habe ich entdeckt, dass der Kontakt der Alarmanlage in seinem Zimmerfenster überbrückt worden ist.«
»Ich weiß.«
Jetzt fühlte sich Dora wie von einer Dachlatte getroffen. »Das weißt du? Und du hast mir nichts gesagt?«
»Ich weiß alles, was in diesem Haus vorgeht«, antwortete Wes aalglatt. »Zum Beispiel weiß ich, dass er an der Alarmanlage rumgebastelt hat, als er anfing, sich mit Millicent zu treffen. Er hat sich oft in ihr Zimmer geschlichen, wenn wir schon im Bett lagen.«
Offenbar sagte er die Wahrheit, dachte sie. Scotts Wangen standen in Flammen.
»Es überrascht mich nicht, dass er ab und zu nachts rausschleicht«, fuhr Wes fort. »Das ist keine große Sache.«
Sie sah ihren Mann fassungslos an. »Da bin ich anderer Meinung.«
»Er ist fast neunzehn, Dora. In dem Alter bleiben Kinder nachts hin und wieder länger aus. Hast du vergessen, wie es ist, jung zu sein?«
Rasend vor Zorn über seine abfällige Reaktion ballte sie die Fäuste. »Es geht nicht darum, dass er nachts ausgeht, Wes. Sondern dass er es heimlich tut.« Sie wandte sich an Scott. »Wo warst du gestern Abend?«
»Nirgendwo. Bloß… spazieren. Luft schnappen. Ich halte es nicht aus, den ganzen Tag in diesem Haus eingesperrt zu sein.«
»Siehst du?«
Sie ignorierte Wes. »Scott, nimmst du Drogen?«
»O Mann, Mom, nein! Wie kommst du auf die Idee?«
»Das würde deine Launen erklären und deine…«
»Jetzt entspann dich endlich, Dora!« Wes sprach immer noch in dem gönnerhaften Tonfall, den sie so verabscheute. »Wie üblich machst du aus einer Mücke einen Elefanten.«
Sie ließ sich nicht
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