Eisnacht
er nicht mal aufs College gehen. Du würdest ihn hierbehalten und ihn bis an sein Lebensende wie ein Baby behandeln.«
Schweigend beendeten sie das Mahl.
Scott hielt den Kopf gesenkt, schaufelte das Essen in sich hinein, bis der Teller leer war, und bat dann, aufstehen zu dürfen.
»Weißt du was?« Wes zwinkerte seinem Sohn großmütig zu. »Wenn du wartest, bis sich das Essen gesetzt hat, wird ein einziges Stück Kuchen wohl nicht schaden.«
»Danke.« Scott warf die Serviette auf den Tisch und stampfte aus dem Zimmer. Sekunden später hörten sie seine Zimmertür zuknallen und gleich danach laute Musik.
»Ich rede mit ihm.«
Dora wollte aufstehen, doch Wes hielt sie am Arm zurück. »Lass ihn«, sagte er und zog sie in ihren Stuhl zurück. »Lass ihn schmollen. Er kommt schon drüber weg.«
»Also, in letzter Zeit schmollt er wirklich oft.«
»Welcher Teenager hat keine Launen?«
»Aber Scott hat sie erst in letzter Zeit entwickelt. Er ist nicht mehr er selbst. Irgendwas stimmt nicht mit ihm.«
Übertrieben höflich sagte Wes: »Ich hätte jetzt gern ein Stück Kuchen.«
Den Rücken ihm zugewandt, zerteilte sie den Kuchen, der auf der Küchentheke auskühlte. »Er liebt dich, Wes. Er tut alles, um dir zu gefallen, aber in letzter Zeit kann er dir kaum was recht machen. Auf Lob würde er viel besser reagieren als auf Kritik.«
Er stöhnte. »Können wir uns nicht ein einziges Mal unterhalten, ohne dass du mir mit irgendeinem Talkshow-Gewäsch kommst?«
Sie stellte ihm den Kuchen hin. »Willst du Eis dazu?«
»Will ich nicht immer welches?«
Sie stellte den Karton auf den Tisch und löffelte eine Kugel auf seinen Kuchen, dann packte sie den Karton wieder ins Eisfach und begann, die Teller zu stapeln. »Du wirst Scott noch aus dem Haus treiben. Willst du das wirklich?«
»Ich will vor allem eines, nämlich in Frieden meinen Nachtisch essen.«
Als sie sich zu ihm umdrehte, sah er zu seiner Überraschung etwas von jener Dora aufblitzen, die er damals als Collegestudentin in ihrem Tennisdress über den Campus gehen sah, die Schlägertasche lässig über die Schulter geschwungen, das T-Shirt schweißnass und von einem Match kommend, das sie, wie er später erfuhr, haushoch gewonnen hatte.
An jenem Nachmittag hatten ihre Augen zornig geblitzt, weil sie beobachtet hatte, wie er ein Bonbonpapier auf den sorgsam kultivierten Rasen geworfen hatte, direkt vor dem Wohngebäude für die Sportler, auf dessen breiter Veranda er mit ein paar Kumpels herumgelungert hatte.
»Blöder, pubertärer Idiot.« Sie sagte das so, als hätte er in einen Springbrunnen gekackt. Dann ging sie das Papier holen, hob es auf und trug es zum nächsten Mülleimer. Ohne sich noch einmal umzudrehen, hatte sie ihren Weg fortgesetzt.
Seine Freunde, Dutch Burton eingeschlossen, hatten ihr nachgepfiffen und hinterhergejohlt, ihr rüpelhafte Bemerkungen und Vorschläge zugerufen, als sie sich gebückt hatte, um das Papier aufzuheben. Wes hingegen hatte ihr versonnen nachgeschaut. Sicher, ihm gefielen ihre knackigen Titten und der feste Hintern. Damit hatte sie ihn ganz schön heiß gemacht. Aber vor allem hatte es ihm ihre »Leck-mich«-Haltung angetan.
Die meisten Studentinnen fielen fast in Ohnmacht, wenn er ins Zimmer trat. Die Mädchen schnitzten sich genau wie die Jungs Kerben in die Bettpfosten, und ein Starathlet im Bett war eine echte Eroberung. Damals waren er und Dutch die Stars des Footballteams gewesen. Er stand als Quarterback im Zentrum des Spieles. Dutch war der Runningback, der die Bälle fangen und in Richtung Ziel tragen musste. Die Mädchen waren ihnen gegenüber ausgesprochen freizügig, und beide bekamen meist alles, was sie sich nur wünschen konnten. Es war ein Leichtes, ein Mädchen ins Bett zu bekommen oder sich einen blasen zu lassen, so leicht sogar, dass es viel von seinem Reiz verloren hatte. Er mochte dieses Mädchen wegen seiner Aufsässigkeit.
Er fragte sich, was aus Doras Aufsässigkeit geworden war. Seit er sie geheiratet hatte, hatte sich diese Eigenschaft praktisch in Luft aufgelöst, doch jetzt entdeckte er eine Spur davon in ihrer Miene.
»Ist dir der Apfelkuchen wichtiger als dein Sohn?«
»Herrgott verflucht noch mal, Dora, ich wollte doch nur…«
»Du wirst ihn noch vertreiben. Dann wird er uns verlassen, und wir werden ihn nie wiedersehen.«
»Weißt du, was dein Problem ist?«, fragte er wütend. »Du hast nicht genug zu tun, ganz einfach. Den ganzen Tag hockst du rum, glotzt diese
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