Eisnacht
hat oder ob er so schwer verletzt ist, dass sein Leben am seidenen Faden hängt. Ehrlich gesagt ist mir das auch egal. Ich mache mir vor allem Sorgen um Lilly. Ich muss da rauf. Und zwar noch heute Nacht.«
»Heute Nacht?«, wiederholte Dora. Wes sah kurz aus dem Wohnzimmerfenster. »Da kommt immer noch verflucht viel runter, Dutch. Mehr als vorhin.«
»Das brauchst du mir nicht zu sagen. Ich bin gerade hergefahren.« Inzwischen war draußen alles mit Eis überzogen. Es sah nicht so aus, als würden die Niederschläge nachlassen, und die Temperaturen sanken immer weiter.
»Wie willst du da hochkommen, Dutch? Die Straße zu eurer Hütte ist unpassierbar. Auf blankem Eis kommst du nicht mal mit Vierradantrieb weiter.«
»Ich weiß«, sagte er halb wütend, halb bedauernd. »Ich hab's probiert.«
»Bist du verrückt?«
»Ja, genau. Jedenfalls war ich es. Als ich die Nachricht hörte, habe ich rein instinktiv reagiert. Bin in den Wagen gestiegen und wollte die Straße hochfahren, aber…« Statt den Satz zu beenden, stürzte er das zweite Glas hinunter. »Ich kam sofort ins Schleudern und konnte den Wagen nur mit Mühe auf der Straße halten.«
»Ich mache Kaffee.« Dora zog sich in die Küche zurück. »Du hättest dich umbringen können«, sagte Wes. »Das war verflucht dumm.«
Dutch stand auf und begann im Raum herumzugehen. »Was soll ich denn machen, Wes? Hier sitzen, mir den Daumen in den Arsch stecken und warten, bis die Straßen wieder frei sind? Das könnte Tage dauern. So lange kann ich nicht warten. Was, wenn Lilly auch verletzt ist? Es sähe ihr ähnlich, mir das nicht zu sagen.«
»Ich verstehe, dass du dir Sorgen machst. Aber du bist nicht mehr für sie verantwortlich.«
Dutch fuhr herum, ballte die Hände zu Fäusten und hätte seinen Freund um ein Haar geschlagen. Zwar sagte Wes die Wahrheit, doch Dutch wollte sie nicht hören. Vor allem wollte er sie nicht von Wes hören. Dem immer und überall überlegenen Wes. Wes, der in seinem ganzen Leben nie eine Niederlage eingesteckt hatte und keine Sekunde lang an sich gezweifelt hatte. Wes hatte immer alles unter Kontrolle.
»Ich bin der Polizeichef. Schon deshalb bin ich für Lilly verantwortlich.«
Wes tätschelte die Luft zwischen ihnen. »Schon gut, schon gut, krieg dich wieder ein. Mich anzubrüllen bringt uns auch nicht weiter.«
Dutch griff nach einem der Kaffeebecher, die Dora auf einem Tablett hereintrug. Er trank ein paar Schlucke, die er nach zwei Gläsern mit unverdünntem Whiskey dringend nötig hatte. Der Bourbon hatte auf seinen Körper wie Nektar gewirkt. Das Aroma, der Geschmack, die Wärme hatten ihn von Kopf bis Fuß durchdrungen, sein Blut zum Kribbeln gebracht und ihn erkennen lassen, wie sehr er seine regelmäßige Alkoholration vermisst hatte.
Er sagte: »Cal Hawkins hat immer noch das Streumonopol, oder?«
»Die Stadt hat letztes Jahr seinen Vertrag verlängert«, bestätigte Wes. »Aber nur weil der nichtsnutzige Hurensohn den einzigen Streulaster besitzt.«
»Meine Männer versuchen ihn seit einer ganzen Weile aufzuspüren. Ich war persönlich bei ihm zu Hause. Da ist alles dunkel und verschlossen. Ans Telefon geht auch niemand. Wenn er nicht draußen rumfährt und streut, wo zum Teufel steckt er dann?«
»In einer Bar, würde ich tippen«, erwiderte Wes. »Darum hängt er so an seinem Job. Da braucht er nur ein paar Tage im Jahr zu arbeiten. Sonst hat er alle Zeit der Welt, sich besinnungslos zu saufen.«
»Die Bars haben wir schon überprüft.«
»Die Bars, in denen sie legal gekauften Schnaps aus Flaschen mit einem richtigen Etikett ausschenken?« Wes zog schnaubend eine Braue hoch. »Da wirst du Cal nicht finden.« Er ging zum Garderobenschrank und holte Mantel, Hut und Handschuhe heraus. »Du fährst. Ich sage dir wohin.«
»Danke für den Kaffee, Dora«, sagte Dutch, als er an ihr vorbeiging.
»Passt auf euch auf.«
Wes antwortete nur: »Warte nicht auf mich.«
Während sie in den schlimmsten Schneesturm der jüngeren Geschichte traten, schlug Wes Dutch zwischen die Schulterblätter. »Keine Angst, Mann. Wir werden deine Lady retten, ob sie will oder nicht.«
Die Fenster in Scotts Zimmer gingen zum Garten hinter dem Haus. Er beobachtete, wie sein Dad und Dutch Burton zu dem schwarzen Bronco mit den roten Lichtern auf dem Dach und den eingeprägten Siegeln auf den Türen schlitterten. Dutch hatte den Motor laufen lassen, während er im Haus war. Die Auspuffgase tanzten hinter dem Wagen wie ein weißes
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