Eisnacht
werden.«
Die Nebenstraße, die er meinte, schlängelte sich an der Westflanke des Berges empor, wo es kälter und dunkler war und wo der Frühling zuletzt einzog. »Sobald die Straße wieder geöffnet ist, möchte ich einmal mit dir hochfahren«, sagte sie. »Ich will sehen, was du aus dem Haus gemacht hast.«
»Es geht voran. Ich hoffe, dass ich bald damit fertig bin, wenn auch nicht diesen, sondern erst nächsten Sommer.«
Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, das Haus zu renovieren und es an Feriengäste zu vermieten. In der Gegend gab es Dutzende von Immobilienagenturen, die über den Sommer und Herbst Ferienobjekte vermittelten. Die meisten Arbeiten hatte er selbst erledigt und nur im absoluten Notfall einen Handwerker beauftragt. Praktisch seine ganze Freizeit verbrachte er mit Renovieren. In Marilees Augen müsste das Haus dem Erdboden gleichgemacht werden, ehe es irgendeinen Reiz entwickeln konnte. Aber nachdem William sich dem Projekt so verschrieben hatte, unterstützte sie ihn.
»Ich habe gehört, dass das alte Smith-Haus im letzten Sommer für fünfzehnhundert pro Woche vermietet wurde«, sagte er. »Ist das zu glauben? Das Haus war praktisch eine Ruine, als sie mit der Renovierung angefangen haben. Unseres wird viel attraktiver.«
»Was hattest du heute Nachmittag hinten im Laden mit Wes und Scott Hamer zu schaffen?«
Er senkte eine Ecke der Zeitung und sah sie scharf an. »Wie bitte?«
»Heute Nachmittag, hinten im Laden…«
»Das habe ich verstanden. Was sollte ich deiner Ansicht nach mit ihnen ›zu schaffen haben‹?«
»Du brauchst nicht gleich beleidigt zu tun, William. Ich wollte nur wissen…«
»Ich bin nicht beleidigt. Es ist bloß eine komische Frage. Weit hergeholt und unangemessen. Als Nächstes fragst du mich noch, welche Medikamente meine Kunden abholen, obwohl du genau weißt, dass ich derart persönliche Informationen nicht weitergeben darf.«
In Wahrheit war er ein Wichtigtuer, der für sein Leben gern tratschte, oft genug auch über seine Kunden und ihre Gebrechen.
»Ging es bei Wes und Scott um etwas Persönliches?«
Er seufzte und legte die Zeitung beiseite, als hätte sie ihm die Freude daran verdorben. »Etwas Persönliches, aber nichts Vertrauliches. Wes hatte angerufen, weil Dora Kopfschmerzen hatte, und mich gefragt, welches nicht verschreibungspflichtige Mittel ich empfehlen würde. Vorhin hat er es abgeholt.«
Er stand vom Tisch auf und ging an die Küchentheke, um seine Kaffeetasse aufzufüllen. Nachdem er einen Schluck Kaffee genommen und sie dabei über den Tassenrand hinweg im Auge behalten hatte, fragte er: »Wieso fragst du? Hast du dir eingebildet, dass Wes nur in den Laden gekommen ist, um mit dir zu flirten?«
»Er hat nicht mit mir geflirtet.«
William sah sie höhnisch an.
»Wirklich nicht«, betonte sie. »Wir haben uns nur unterhalten.«
»Ehrlich, Marilee, ich kann nicht glauben, dass du dich geschmeichelt fühlst, nur weil Wes sich für dich interessiert«, sagte er mit gespieltem Mitleid. »Er flirtet mit allem, was Eierstöcke hat.«
»Sei nicht so derb.«
»Derb?« Er lachte kurz auf und versprühte dabei Kaffee. »Was derb ist, weißt du erst, wenn du gehört hast, wie Wes über Frauen spricht. Außerhalb ihrer Hörweite natürlich. Er verwendet Gossenbegriffe, die du wahrscheinlich noch nie gehört hast, und prahlt mit seinen sexuellen Eroberungen. So wie er redet, könnte man meinen, er würde noch in die Highschool gehen. Er trägt seine Affären so demonstrativ vor sich her wie früher den Ball durch den Gang, wenn er ein wichtiges Spiel gewonnen hatte.«
Marilee wusste sehr wohl, dass sich hinter Williams abschätziger Reaktion die blanke Eifersucht verbarg. Er wäre für sein Leben gern so ein Macho gewesen wie Wes. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, hatte er seinen pubertären Neid auf den beliebten Klassenkameraden nie überwunden. Die Abschlussrede halten zu dürfen war längst nicht so sexy, wie Captain des Footballteams zu sein. Jedenfalls nicht in dieser Gegend der Welt.
Doch sie wusste auch, dass seine Aussagen über Wes zwar übertrieben waren, aber im Kern stimmten. Sie gehörte genau wie Wes Hamer zum Lehrerkollegium an der Highschool. Er stolzierte tatsächlich durch die Schulkorridore, als würden sie ihm gehören. Und er schien zu glauben, dass ihm als ranghöchstem Sportlehrer die ganze Schule unterstand. Er sonnte sich in seinem Titel, der Prominenz und den Privilegien, die dieser mit sich brachte.
»Wusstest du,
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