Eisnacht
hatte das Ende ihres Dialogs angezeigt.
Sie brauchte mindestens eine Stunde, um einzuschlafen, und sie war ziemlich sicher, dass er noch wach war, als sie endlich eingenickt war. Vom Löschen der Lichter bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie eingeschlafen war, hatte er reglos dagelegen, still, stumm und… was eigentlich? Erwartungsvoll?
Seit dem Kuss war die Spannung so deutlich spürbar, dass man sie mit einem Messer schneiden konnte. Ihre Unterhaltungen wirkten aufgesetzt. Sie mieden jeden Augenkontakt. Sie behandelten sich gegenseitig übertrieben höflich.
Dass sie den Kuss ignoriert hatten, machte ihn umso bedeutsamer. Wenn sie Witze oder Bemerkungen darüber gemacht hätten wie: »Wow, das wäre erledigt. Jetzt haben wir unsere Neugier gestillt und können uns ganz aufs Überleben konzentrieren«, hätten sie den Kuss leichter abtun können.
Stattdessen hatten sie so getan, als wäre nichts passiert. Keiner von beiden wusste, was der andere empfand. Infolgedessen wurde der Vorfall ganz und gar ausgeklammert, weil jeder fürchtete, sich zu verplappern oder das labile Gleichgewicht zu stören.
Und doch hatte sie nach all dem unbeholfenen Wegschieben und der geheuchelten Gleichgültigkeit halb erwartet, dass er etwas wie: »Das ist doch Quatsch« murmelte, vom Sofa aufstehen und sich zu ihr auf die Matratze legen würde. Weil es kein einfacher Kuss gewesen war. Sondern ein Auftakt.
»So nett bin ich nicht«, hatte er gesagt.
Eine Sekunde später hielt er ihr Gesicht zwischen seinen kräftigen Händen, die sie den ganzen Abend schon bewundert hatte, und drückte seinen Mund auf ihren. Er hatte nicht gezögert und nicht um Erlaubnis gefragt. Reuig oder unsicher? Kein bisschen. Sowie sich ihre Lippen berührten, wurden seine hungrig und fordernd.
Er schlug ihren Mantel zurück und fasste sie an der Taille. Dann schoben sich seine Arme um sie, und er ging kurz in die Knie, um sie anzuheben und gegen seinen Leib zu drücken. Seine Hand lag breit auf ihrem unteren Rücken und presste sie so gegen ihn, dass die Pose nur allzu deutlich sagte: Ich will dich.
Die Begierde lief wie eine warme, weiche Welle durch ihre Brust und ihre Hüften. Es war ein wunderbares Gefühl, sich wieder in dieser Flut von Empfindungen zu verlieren, die kein Zaubertrank und keine Droge hervorrufen konnten. Nichts anderes löste ein solches Summen aus, nichts war mit dem berauschenden Kitzel sexueller Erregung zu vergleichen.
Es war Jahre her. Mit Sicherheit, seit Amy gestorben war, denn danach hatten weder sie noch Dutch die emotionalen Ressourcen, um guten Sex zu haben. Sie hatten es versucht, aber nach einiger Zeit war es so kompliziert geworden, den nötigen Enthusiasmus zu heucheln, dass sie nicht einmal versucht hatte, einen Orgasmus vorzutäuschen.
Ihre schwache Reaktion war der nächste Tiefschlag für Dutchs Selbstbewusstsein, das ohnehin im Wanken war. Er versuchte sein Ego wieder aufzubauen, indem er sich auf eine Reihe von Affären einließ. Die hätte sie ihm beinahe verzeihen können. Er hatte bei anderen Frauen gesucht, was sie ihm nicht mehr geben konnte.
Was sie ihm nicht verzeihen konnte, waren die Affären, auf die er sich eingelassen hatte, bevor sie Amy empfangen hatte.
Sie hatte lange gebraucht, um zu verstehen, warum Dutch schon in den Anfangsjahren ihrer Ehe mit anderen Frauen geschlafen hatte, obwohl ihr Sexleben damals noch aktiv und gut gewesen war. Doch irgendwann war ihr klar geworden, dass er ständig Bestätigung brauchte. Auf jeden Fall im Bett. Und noch mehr außerhalb des Bettes. Außerdem war ihr klar geworden, wie ermüdend es war, ihm ununterbrochen diese Bestätigung zu geben. Kein noch so dickes Polster konnte je genügen.
Sie hatten sich auf einem Galaempfang für die Wohlfahrtsorganisation des Atlanta Police Departments kennen gelernt. Dutch schwamm auf einer Woge von Publicity, nachdem er einen mehrfachen Mord aufgeklärt hatte, und war als Vorzeigepolizist des Departments gebeten worden, auf dem Bankett eine Rede zu halten.
Auf dem Podium war er gutaussehend, charmant und wortgewandt. Er war eine blendende Partie: ehemaliger Footballspieler und jetziger Verbrecherjäger. Seine Ansprache hatte die anwesende Schickeria dazu verführt, tief in die Taschen zu greifen, und Lilly dazu verleitet, ihn nach der Veranstaltung anzusprechen. Bevor sie sich voneinander verabschiedeten, hatten sie sich zum Abendessen verabredet.
Innerhalb von sechs Monaten waren sie verheiratet, und ein Jahr lang hätte
Weitere Kostenlose Bücher