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Eisnacht

Eisnacht

Titel: Eisnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Brown
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Kajakkünste zu beneiden schien, hatte ihn abends um ein paar Tipps gebeten. Tierney schien die Menschen anzuziehen, ohne dass er etwas dafür tun musste. Ihm blieb niemand lange fremd. Nur er blieb allen fremd.
    Er schloss Freundschaften, indem er die Menschen animierte, über sich zu sprechen, doch er selbst gab nichts von sich preis. Ließ ihn vielleicht dieses Paradox so mysteriös und verführerisch wirken?
    Es irritierte sie, dass sie das so doppelsinnige Wort verführerisch auch nur gedacht hatte. Trotzdem konnte sie keinen besseren Ausdruck finden, um Tierneys magnetische Anziehungskraft zu beschreiben. Bei ihren beiden Begegnungen mit ihm hatte sie in geradezu beunruhigender Weise auf diese undefinierbare Eigenschaft reagiert.
    Schon seit jenem ersten Hallo im Bus hatten sie sich auf den Kuss von gestern Abend zubewegt. Getrennt voneinander, aber unausweichlich. Darum war ihr sein Kuss wie etwas Vorherbestimmtes erschienen, das lediglich um ein paar Monate hinausgezögert worden war.
    Der Kuss hatte die lange Wartezeit gelohnt. Sie spürte noch lebhaft, wie fest seine Daumen auf ihren Wangenknochen gelegen hatten, als er ihr Gesicht angehoben hatte, wie sein Atem über ihre Lippen gestrichen war, wie sich seine Zunge beschwörend in ihren Mund gestohlen hatte. Beim bloßen Gedanken daran spürte sie tief in ihrem Inneren ein begehrliches Rumoren.
    So leise wie möglich drehte sie sich um und betrachtete ihn lächelnd.
    Er war zu lang für das Sofa. Die Armlehne schnitt in seine Waden. Um den Hinterkopf erhöht zu halten, hatte er ein Kissen zu einer Nackenstütze zusammengerollt.
    Die Decken reichten ihm bis zum Kinn, auf dem sich über Nacht ein dunkler Bartschatten gebildet hatte. Seit Jahren war er Wind und Sonne ausgesetzt, aber die Spuren, die das hinterlassen hatte, standen ihm bemerkenswert gut. Sie mochte die Fältchen, die von seinen Augenwinkeln ausgingen. Seine Lippen waren leicht rissig. Sie musste daran denken, wie sie bei dem Kuss über ihre gerieben hatten.
    Es hätte sie nicht gestört, wenn der Kuss länger ausgefallen wäre. Oder wenn ihm ein zweiter gefolgt wäre. Ihre Weigerung, mit ihm zu schlafen, erstreckte sich nicht notwendigerweise aufs Küssen, aber er hatte das offenbar so aufgefasst.
    Oder der Kuss hatte ihm nicht so gut gefallen wie ihr. Nein. Unmöglich. Selbst wenn sie den unmissverständlichen Druck in der Leiste nicht gespürt hätte, hätte das leise, gezwungene Knurren, mit dem er sich zurückgezogen hatte, sie überzeugt, dass er den Kuss mindestens ebenso genossen hatte wie sie. Er hatte fast wütend gewirkt, als er seine Lippen von ihren genommen, sie freigegeben und sich abgewandt hatte.
    Warum hatte er keinen zweiten Vorstoß unternommen? Oder wenigstens gefragt, ob sie das stören würde? Sie hatte klargemacht, dass sie für Dutch nichts mehr empfand. Eigentlich konnte er davon ausgehen, dass sie auch nicht mit einem anderen liiert war, aber…
    Ihr Gedankenzug entgleiste.
    Sie war mit niemandem liiert, aber was war mit Tierney?
    Einen Ehering trug er nicht. Er hatte auch nichts von einer Ehefrau oder einem Lebenspartner erzählt, andererseits hatte sie auch nicht danach gefragt. Dass er ihr bei ihrer ersten Begegnung ein Date vorgeschlagen hatte, hatte nichts zu bedeuten. Verheiratete Männer verabredeten sich ständig mit anderen Frauen.
    Gestern Nacht hatte er auch keinen Ton von einer Frau oder Freundin gesagt, die sich um ihn sorgen würde, wenn er nicht nach Hause kam, aber auch das hieß nicht, dass es nicht jemanden gab, der jetzt angsterfüllt im Zimmer auf und ab ging und sich den Kopf zermarterte, wo Tierney war und ob er mit jemandem zusammen war, genau wie sie sich in mehr Nächten, als sie zählen konnte, über Dutch den Kopf zermartert hatte.
    Wie naiv von ihr anzunehmen, dass es keine Frau in seinem Leben gab. Ein Mann mit seinem Aussehen? Gott, Lilly, mach die Augen auf.
    Ihr Blick wanderte von ihm zu seinem Rucksack, der immer noch unter dem Beistelltisch auf dem Boden lag, wo Tierney ihn gestern Abend hingeschubst hatte, nachdem er behauptet hatte, dass nichts Brauchbares darin sei. Vielleicht war dafür aber etwas Aufschlussreiches darin.
    »Scott?«
    »Hmm?«
    »Steh auf.«
    »Hmm?«
    »Ich sagte, steh auf.«
    Scott wälzte sich auf den Rücken und öffnete mühsam die Augen. Wes stand in der Zimmertür und sah streng auf ihn herab. Scott stützte sich auf die Ellbogen und blickte durch das Fenster in eine weiße Wüste. Nicht einmal der

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