Eisnacht
sie abfeuert, und ich werde es tun.«
Ihrer Stimme fehlte die Kraft, um überzeugend zu klingen. Weil sie ohne Aussicht auf baldige Rettung mit einem Mann gefangen war, den sie jetzt verdächtigte, fünf Frauen entführt und ermordet zu haben, und weil sie schon zu lange keine Medikamente mehr genommen hatte, bereitete ihr das Luftholen zunehmend Mühe. Das war ihm nicht entgangen. »Du hast Probleme.«
»Nein, du hast welche.«
»Du fängst an zu pfeifen.«
»Es geht mir gut.«
»Nicht mehr lang.«
»Ich schaffe das schon.«
»Du hast gesagt, dass emotionale Belastungen eine Attacke auslösen können. Zum Beispiel Angst.«
»Ich habe die Pistole, wovor sollte ich Angst haben?«
»Du brauchst vor mir auch keine Angst zu haben.«
Sie schnaubte und zwang sich, seinen leuchtenden blauen Augen standzuhalten. »Erwartest du etwa, dass ich dir glaube?«
»Ich würde dir nicht wehtun. Ehrenwort.«
»Tut mir leid, Tierney. Das reicht nicht. Wieso warst du gestern auf dem Berg?«
»Das habe ich dir doch erzählt, ich…«
»Beleidige nicht meine Intelligenz. Es war ganz bestimmt kein Tag für eine Wanderung. Wer geht schon auf eine Bergwanderung, wenn ein Eissturm angesagt ist? Bestimmt nicht jemand mit deiner Erfahrung im Bergsteigen.«
»Ich gebe zu, dass es leichtsinnig war.«
»Leichtsinnig? Du? Das passt nicht zu dir. Versuch's noch mal.«
Seine Lippen bildeten eine dünne, feste Linie, die sie daran erinnerte, dass er es gar nicht mochte, wenn man an seinen Worten zweifelte.
»Der Sturm kam schneller, als ich erwartet hatte. Mein Wagen sprang nicht mehr an. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu Fuß ins Tal zu gehen.«
»Das glaube ich dir noch.«
»Ich habe eine Abkürzung genommen, um die vielen Serpentinen der Straße abzuschneiden. Dabei habe ich mich verlaufen…«
»Verlaufen?« Auf dieses Wort schien sie nur gewartet zu haben. »Du mit deinem phänomenalen Orientierungssinn willst dich verlaufen haben?«
In seiner Lüge gefangen, stockte er kurz und suchte nach einem neuen Ansatz. »Du hast dich von der Hysterie anstecken lassen.«
»Hysterie?«
»Wegen der verschwundenen Frauen. Jede Frau in Cleary hat Angst, dass sie die Nächste sein könnte. Die Furcht hat die ganze Gemeinde im Griff. Du bist seit einer Woche hier. Die Panik hat sich auf dich übertragen. Du betrachtest jeden Mann mit Misstrauen.«
»Nicht jeden Mann, Tierney. Nur einen. Den einen, der keine glaubwürdige Erklärung dafür hat, dass er mitten in einem Blizzard durch den Wald spaziert. Den einen, der genau weiß, wo meine Hütte liegt, obwohl ich ihm das nie erzählt habe. Den einen, der gestern Abend seinen Rucksack nicht öffnen wollte, und zwar aus gutem Grund, wie ich inzwischen weiß.«
»Ich verspreche dir, dass ich alles erklären werde«, sagte er angespannt, »aber nicht, solange du mit einer Pistole auf mich zielst.«
»Du kannst das alles Dutch erklären.«
Seine Gesichtszüge wurden auf einmal härter und schärfer, so als hätte sich die Haut über den Knochen gestrafft.
Sie zog ihr Handy aus der Manteltasche. Es hatte immer noch keinen Empfang.
»Du machst einen Fehler, Lilly.«
Die Worte und der langsame, bedachte Tonfall, in dem er sie vorbrachte, ließ sie frösteln.
»Dich von deiner Phantasie irreführen zu lassen, könnte ein gefährlicher Fehler sein.«
Sie durfte ihm nicht zuhören, durfte sich nicht umstimmen lassen. Er hatte sie seit jenem ersten, entwaffnenden Lächeln im Bus angelogen. Er hatte nur eine Rolle gespielt, mit der er schon öfter Erfolg gehabt haben musste. Alles, was er getan und gesagt hatte, war eine Lüge. Er war eine Lüge.
»Ich flehe dich an, mich wenigstens anzuhören.«
»Na schön, Tierney«, sagte sie. »Ich werde dich anhören, wenn du die hier erklären kannst.«
Zu ihren Füßen lagen die Handschellen, die sie neben der Pistole in einer der Seitentaschen des Rucksacks entdeckt hatte. Sie stieß sie mit dem Fuß vorwärts. Sie schlitterten über den Dielenboden und kamen vor seinen bestrumpften Zehen zu lie-gen. Er sah lange darauf, ehe er den Kopf wieder hob und sie unversöhnlich anblickte.
»Habe ich mir doch gedacht.« Die Pistole in der Rechten haltend, tippte sie mit der Linken Dutchs Handynummer ein. Das Handy war immer noch mausetot, aber sie tat so, als würde der Anruf auf seiner Mailbox landen. »Dutch, mir droht Gefahr von Ben Tierney. Komm so schnell du kannst.«
»Du liegst völlig falsch, Lilly.«
Sie ließ das Handy wieder in die
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