Eisnattern: Ein Hamburg-Krimi (German Edition)
Wahrscheinlich ist sie seitdem genau bis hierhin vorangekommen. Sie lebt auf der Straße, hat im Gegensatz zu anderen Obdachlosen aber ihren kompletten Hausstand dabei. Sie tuckert in Begleitung von sieben alten Kinderwägen durch die Stadt, alle bis zum Anschlag gefüllt mit Krempel. Teilweise hat sie die Sachen in Tüten verpackt, das sind vermutlich ihre Klamotten. Viele Dinge stapelt sie aber auch einfach so auf den Wägen. Lampen, Kochtöpfe, Decken, Puppen, einen Spiegel, eine Gitarre, ein Paar Gummistiefel. Und so arbeitet sie sich die Straße entlang. Schiebt den ersten Wagen drei Meter, stellt ihn ab. Geht zurück zur Kolonne. Schiebt den zweiten Wagen drei Meter, stellt ihn ab. Geht zurück zur Kolonne. Schiebt den dritten Wagen drei Meter, stellt ihn ab. Geht zurück zur Kolonne. Das macht sie, bis alle sieben Wägen drei Meter weitergekommen sind. Dann fängt sie wieder von vorne an. Sie regelt ihre umständliche Aktion mit einer nervenzehrenden Ruhe und Gleichförmigkeit, als wäre es vollkommen selbstverständlich, sich so fortzubewegen.
Und ihr Look ist spektakulär: Sie ist relativ klein, aber die hochhackigen grünen Stiefel lassen sie ziemlich langbeinig erscheinen. Zu den Stiefeln trägt sie schwarze Wollstrumpfhosen, die mit Löchern und Laufmaschen übersät sind. Ihr enger Rock ist kurz und auch grün, das Material ist völlig undurchschaubar. Könnte LKW-Plane sein, ich bin mir aber nicht sicher. Obenrum trägt sie eine Art Cape, es ist pink. Auf dem Kopf, über den schwarzen, zum wuschigen Knoten gebundenen Haaren, sitzt ein schwarzer Filzhut. Mit einer roten Stoffrose dran. Niemand könnte sagen, wie alt sie ungefähr ist.
Die Frau sieht eigentlich aus wie eine hochgejazzte Konzeptkünstlerin. Vielleicht schätze ich das alles ja auch völlig falsch ein, und sie ist tatsächlich eine.
Mein Telefon klingelt.
Der Zombie ist dran. Wo zum Teufel hat meine Mutter denn jetzt meine Nummer her? Ich hab sie nicht aus Versehen irgendwo rumliegen lassen.
»Ich fliege heute Nachmittag zurück in die Staaten«, sagt sie.
»Okay.«
»Wenn wir uns noch mal sehen wollen, solltest du langsam nach Hause kommen, Chastity.«
Nach Hause. Wie sie das sagt. Als wäre mein Zuhause auch ihr Zuhause. Ich lege auf und zünde mir eine Zigarette an.
Wenn ich heute Abend meine Wohnungstür aufschließe, wird sie nicht mehr da sein.
Ich rauche und beobachte weiter die Frau mit den Kinderwagen, wie sie sich Stück für Stück in Richtung des alten Schlachthofs arbeitet. Die hat solche Probleme nicht. Die hat andere.
Ich rufe den Calabretta an.
»Was macht unser vermisster V-Mann?«
»Wir haben nichts von ihm gehört«, sagt er. »Ich will heute Nacht mit den Kollegen Brückner und Schulle nach der Wohnung sehen, die wir für ihn auf dem Kiez gemietet haben. Vielleicht finden wir da irgendwas. In seiner Privatwohnung in Lokstedt ist er offensichtlich ewig nicht mehr gewesen. Die haben wir uns gestern angekuckt, da ist alles verwaist.«
Wir wissen beide, dass sich das ziemlich übel anhört.
»Was haben Sie sonst vor?«
»Nichts«, sagt der Calabretta, und ich höre das Zittern in seiner Stimme. »Wir können nur warten.«
*
Auf dem Weg nach Hause komme ich an der Kleinen Pause vorbei, und wie ich so darüber nachdenke, ob ich eigentlich Hunger habe oder nicht, sehe ich den Faller an der Theke sitzen. Er hat ein Glas Apfelsaft und einen abgegrasten Teller vor sich. Ich mache die Tür auf und gehe rein. Schön warm ist es hier.
»Na«, sage ich, »was gab’s denn Feines?«
»Schaschlik«, sagt der Faller, und er freut sich richtig. »Hätten Sie einen Ton gesagt, dass Sie zum Essen kommen, ich hätte natürlich auf Sie gewartet, mein Mädchen.«
Ich rutsche neben dem Faller auf die Bank und bestelle eine Orangenlimonade und eine Portion Pommes.
»Geht klar, Süße«, sagt die Frau hinterm Tresen und zeigt auf den Faller. »Aber lass bloß die Finger von unserm Opi hier, sonst setzt’s was.«
»Ich rühr ihn nicht an«, sage ich und hebe die Hände.
Die liebevolle Beschimpfung der Gäste gehört zur Kernkompetenz der Damen, die in der Kleinen Pause arbeiten, und ich ziehe mir das immer wieder gerne rein.
»Ich nehm dann noch’n Kaffee und ein Snickers, bitte«, sagt der Faller.
»Yo, mein Dickerchen.«
Das Schöne hier ist, dass wirklich ausnahmslos alle beschimpft werden. Bis auf die Kinder. Die heißen einfach »Schatzilein«, kriegen Gummibärchen geschenkt und lieben die Kleine Pause. Das nenne
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