Eisnattern: Ein Hamburg-Krimi (German Edition)
Nischen gewesen und haben alle Orte durchgekaut, an denen sich die Obdachlosen im Viertel so sammeln. Und so viele Möglichkeiten haben die doch auch nicht, zwei junge Leute zu verstecken.«
Er zieht an seiner Zigarette und versucht, erwachsen auszusehen. Das gelingt ihm so gut, dass ich jetzt weiß, wie der Tschauner in zwanzig Jahren daherkommen wird: aufgerauht, erledigt, gut.
»Wir gehen doch inzwischen stark davon aus, dass Yannick und Angel von einem ihrer ehemaligen Opfer gekapert worden sind, oder?«
»Richtig«, sage ich.
»Dann könnten ihnen ihre Gewaltexzesse echt ganz schön um die Ohren fliegen«, sagt der Tschauner. »Sieht nicht gut aus für die beiden.«
Wer Gewalt sät, kriegt irgendwann selber auf die Schnauze, so ist das nun mal im Leben.
Der junge Kollege streckt den Kopf aus dem Fenster und schaut in den Himmel.
»Oder die sind längst tot.«
»Das glaube ich nicht«, sage ich. »Irgendwie glaube ich das nicht. Schon mal einen obdachlosen Killer erlebt? Die haben für so was doch gar nicht die Kraft.«
Er atmet tief ein und wieder aus, holt sich ein bisschen Winterluft ins Gehirn.
»Wir müssen Patric und Larissa zum Reden bringen«, sagt er. »Und wir brauchen die anderen Jugendlichen. Wir müssen herausfinden, was genau die mit wem gemacht haben, und warum. Dann finden wir auch Yannick und Angel.«
»Ich mache mich noch mal auf den Weg ins Karolinenviertel«, sage ich. »Vielleicht grabe ich ja doch irgendwo noch einen aus, der mit mir redet. Rufen Sie mich an, wenn sich bei Patric Kober oder Larissa von Heesen was tut?«
Der Tschauner nickt und schmeißt seine Kippe aus dem Fenster. Ohne zu kucken, ob unten jemand langläuft. Na also. Geht doch.
*
Weihnachten ist vorbei. Heute ist der 27. Dezember. Die Läden haben alle wieder auf. Das Leben kehrt zurück in die Straßen, ein bisschen hier, ein bisschen da. Ich hab sie hinter mir, die besinnliche Stille. Die Pest der Liebe. Dem Christkind sei Dank.
Ich versuche mir vorzustellen, wie es gewesen sein könnte. Versuche, die Welt mit den Augen von Yannick und seinen Freunden zu sehen. Die Idylle im Karoviertel, die wie alle Idyllen aller Stadtviertel auf der Kippe zur Yuppie-Idylle ist. Die kleinen Flecken auf der Idylle. Hier ein Hippie ohne Dusche, da ein Bettler ohne Beine. Die Romakinder in ihren zu kleinen Winterjacken, die auf dem geschotterten Platz an der Grabenstraße im Schnee spielen. Die alten Recken, die auf den Bänken sitzen und wärmenden Schnaps trinken. Die Punks, die ihre Egal Bar beschützen. Wenn die Obdachlosen wegmussten, warum nicht auch jemand von den anderen, die das Bild verdrecken? Ging es vielleicht gar nicht darum, dass was wegmusste? Ging es nur um möglichst billige Opfer? Oder um was ganz anderes? Gab es irgendwelche Auswahlkriterien?
Ich setze mich auf eine schneefreie Treppe gegenüber dem kleinen Platz und beobachte ein paar Obdachlose bei ihrem Tagwerk. Sie schlurfen durch die Straßen, besorgen sich was zu trinken und besetzen ein paar Ecken. Tagsüber sind die immer in Grüppchen unterwegs. Da kann man nicht so einfach einen rausholen und in den Bunker verschleppen. Aber nachts. Da sind sie meistens alleine. Schlafen jeder für sich, zusammengerollt in einem Hauseingang. Als wäre es nachts besser so.
Es muss nachts passiert sein. Nachts ist es für Sankt Pauli relativ ruhig im Karolinenviertel. Außer der Egal Bar macht alles irgendwann zu. Nachts kann man hier schon unbeobachtet Scheiße bauen. Die Büroetagen im Bunker sind verwaist. Und die Eltern kriegen auch nichts mit davon, schlafen ja alle schön. Clevere kleine Monster. Vielleicht war es wirklich gar nicht schwer, hier geeignetes Prügelmaterial zu finden. Und vielleicht ging’s wirklich vor allem ums Prügeln und um sonst nichts.
Aber wie, bitte schön, soll eigentlich ein einzelner Obdachloser zwei Jugendliche verschleppen? Der muss die schon bewusstlos gehauen haben. Oder die ehemaligen Opfer haben sich eben zusammengetan.
Und wo, zur Hölle, haben sie die beiden hingebracht?
Ich lege meinen Kopf nach hinten, sehe zwei, drei, vier Möwen am verhangenen Himmel. Ich registriere eine kleine Helligkeit, die wohl der Januar schon mal vorgeschickt hat und die ankündigt, dass die dunkelste Zeit des Jahres bald vorbei ist, und dann arbeitet sich die komplizierteste Frau Hamburgs langsam durch die Marktstraße. Ich habe sie vor Jahren schon mal in der Innenstadt gesehen, ich wusste nicht, dass sie immer noch unterwegs ist.
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