Eisprinzessin
geworden. Einzig das Rufen der Käuzchen in der Nacht war noch zu hören und der keckernde Warnruf der Eichelhäher.
Meißners wichtigstes Amt war das des Heizers des Bollerofens. Dazu gehörten auch die Unterämter Holzhacker, Holzspalter, Holzsammler und Holzaufschichter. Und, nicht zu vergessen, Aschenkastenausleerer. Auf dem Bollerofen machte er sich auch das Essen warm, das er bei Luigi gekauft hatte.
Mit diesen handfesten Dingen war er ausreichend beschäftigt. Manchmal fiel ihm die Szene in der Teeküche wieder ein, er hatte noch Marlus Gurren im Ohr, aber er wusste schon nicht mehr, ob er es tatsächlich gehört oder sich nur eingebildet hatte. Er dachte viel über die vermisste Charlotte Helmer nach. Sein Instinkt sagte ihm, dass er etwas Wichtiges bisher übersehen hatte. Aber er kam nicht drauf, was es war.
Am Sonntagnachmittag packte er seine Sachen. Den Ofen hatte er schon nach dem Frühstück ausgehen lassen. Er zog den Aschenkasten heraus, bürstete die letzten Reste aus der Brennkammer. Der Kasten war noch warm, obwohl keine Glut mehr zu sehen war. Er trug ihn nach draußen und schüttete die Asche aus. Da hörte er ein Knacken im Unterholz. Noch einmal knackte es, das Geräusch war nicht weit weg. Meißner trat hinter den Stamm einer Grauerle, der gerade dick genug war, um ihn zu verbergen. Die übrigen Erlenstämme waren fingerdünn, standen aber dicht an dicht.
Im Gestrüpp vor ihm landete ein Rotkehlchen und plusterte sich zu einer Christbaumkugel auf. Das Knacken war jetzt ganz nah. Eine vermummte Gestalt trat aus dem Wald und ging auf die Hütte zu. Sie trug Stiefel und einen grünen Parka und hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Meißner sprang aus seiner Deckung, setzte dem Eindringling nach und packte ihn von hinten. Er bekam seinen Arm zu fassen und drehte ihn auf den Rücken, bis die Person aufschrie. Er riss sie herum, und als die Kapuze nach hinten rutschte, kam Marlus dunkelblonder Schopf zum Vorschein.
»Lass los, du Idiot!«, fuhr sie ihn an. »Spielst du hier Räuber und Gendarm, oder was?« Sie erholte sich schneller von ihrem Schrecken als er. »Bei uns in der Stadt geht die Post ab, während du wie ein Rentner in deinem einsamen Hüttchen im Wald hockst.«
Er ließ sie los und wandte sich ab.
»Was machst du denn da?«, rief sie ihm nach.
»Ich hol meinen Aschenkasten. Wollte eh grad gehen.«
Sie trampelte in die Hütte hinein, beschwerte sich, dass es saukalt war und wies auf seine Notizblätter, die noch auf dem Tisch lagen.
»Schreibst du deine Memoiren?« Ihr Gesicht glühte vor Zorn, aber er tat so, als beanspruche der Ofen seine ganze Aufmerksamkeit.
»Dass du den Weg überhaupt noch gefunden hast«, sagte er. »Du schaust aus wie eine Jägerin.«
»Und du wie ein Waldschrat, also ehrlich. Pack zusammen, dann erzähl ich dir auf dem Weg in die Zivilisation, was alles passiert ist, während du dir hier Brandlöcher in deine Rangerhose gekokelt und offenbar vergessen hast, dich zu rasieren. – Steht dir gar nicht mal so schlecht.«
Er atmete auf. Gut, dass sie sich wieder beruhigte. Geschrei machte ihn immer ganz nervös.
Er hatte in den zwei Tagen über so viel nachgedacht. Hatte sich alte Fälle von Vermissten aus seiner Zeit als Kriminaler ins Gedächtnis gerufen und sich an die Spuren erinnert, die letztlich zur Aufklärung geführt hatten. Er hatte nicht nur über Charlotte Helmer nachgedacht, sondern auch über sich selbst. Ihm war eingefallen, dass er sich von Carola das Ergebnis des Vaterschaftstests hätte zeigen lassen sollen, schwarz auf weiß. Vielleicht hatte sie ihn angelogen, und er hatte es einfach so hingenommen. Immer wieder fielen ihm so wichtige Dinge erst hinterher ein. Wieso war er eigentlich so schrecklich unbeholfen, wenn es um seine eigenen Angelegenheiten ging?
»Komm jetzt«, trieb Marlu ihn an. »Ich hab eh schon ewig gebraucht, bis ich die verdammte Hütte wiedergefunden hab. Ich hab gedacht, ich würd dauernd nur im Kreis rumrennen. Von dir hört man ja nichts hier draußen. Hättest du mal ein Radio angeschaltet oder eine von deinen komischen Opern gehört, dann wäre mir die Orientierung leichter gefallen. Aber nein, du hockst hier stumm wie ein Fisch und brütest vor dich hin.«
»Ich bin halt ein Sozialversager«, antwortete er.
»So-zi-al-ver-sa-ger?« Sie trennte die Silben wie im Rechtschreibduden.
»So hat Carola mich mal genannt. Und die Hütte hier ist doch der ideale Platz für so einen wie mich. Passt wie die
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