Eisprinzessin
wie Marlu bei Brunner stand und sich mit ihm unterhielt. Ihre Köpfe waren nah beieinander. Er fror wie ein Schneider, deshalb fuhr er nach Hause. Eisschwimmen war wirklich das letzte Vergnügen, für das er sich im deutschen Januar erwärmen könnte.
ZWÖLF
Der Montag sollte der Tag der Überraschungen werden. Meißner hatte schlecht geschlafen, wofür es verschiedene Gründe gab. Irgendwie hatte er gerade das Gefühl, als habe ihn sein Rückzug am Wochenende nur noch mehr in das Chaos hineingeritten, vor dem er doch eigentlich hatte flüchten wollen. Irgendwie war die Sache ziemlich verworren. Irgendetwas in diesem Fall stimmte hinten und vorn nicht. Warum konnte die Vermisste, wenn sie hier schon Familie, Ehemann, Beruf und Freunde hinter sich gelassen hatte, sich nicht wenigstens einmal melden und ein Lebenszeichen geben, und sei es noch so winzig? So was in der Art wie: Mir geht’s gut, aber lasst mich in Ruhe und sucht nicht nach mir. Seinetwegen auch: Ich will ein neues Leben anfangen und euch nicht dabeihaben.
Das wäre zwar auch nicht schön für den Ehemann oder den Vater, aber es wäre immerhin eine Ansage. Aber dieses spurlose Verschwinden stürzte die Angehörigen doch in eine vollkommene Trostlosigkeit. Während sie sich Tag und Nacht um den Vermissten sorgten, saß der womöglich auf der Isla Margarita oder am Zuckerhut und ließ sich die Sonne auf den Bauch brennen. Das war doch einfach nur unanständig.
Zuerst nahm er sich die Briefe vor, die Brunner in einem rot-weiß gestreiften Ikea-Karton ins Präsidium gebracht hatte. Kuverts gab es keine, unterschrieben waren sie mit M., der als Anrede jedes Mal ein anderes Kosewort gewählt hatte: Täubchen, Kätzchen, Engel, Geliebte oder Liebste. Nirgendwo tauchte der Name Charlotte auf. M. konnte gut Deutsch, aber alles andere als perfekt. Bestimmt konnte man seine Grammatikfehler analysieren, um Aufschlüsse auf seine Muttersprache zu erhalten. Vielleicht gab es im Landeskriminalamt in München dafür Spezialisten.
Das Briefpapier war kein normales Schreibmaschinenpapier. Es war besonders dicht und hatte kleine Einschlüsse von Fasern, die dem bräunlichen Papier ein marmorartiges Aussehen verliehen. Meißner dachte an Sporturkunden oder handgemalte Gutscheine, die auf antik gemacht waren. Verdammt, wie nannte man diese Art Papier noch mal?
Auch die Polaroidaufnahme, die der Briefeschreiber von sich selbst gemacht und mitgeschickt hatte, sah schon etwas in die Jahre gekommen aus. War Polaroid nicht vor einigen Jahren pleitegegangen? Meißner zog Kopien von zwei Briefen und dem Foto und veranlasste, dass die Originale zur kriminaltechnischen Untersuchung geschickt wurden.
Er rief den elektronischen Bundesanzeiger im Computer auf und sah im Handelsregister nach, was er dort zur Donau-Kühlung finden konnte. Er las: Rechtsform: GmbH, gegründet 1989. Gesellschafter waren Andreas Helmer und Eva Maria Helmer. Andreas war der Junior, das war klar. Aber wer war Eva Maria?
Nach den Bilanzen der vergangenen fünf Jahre zu urteilen, war die Donau-Kühlung eine gute Gewinne einfahrende Firma. Meißner hoffte, dass er die Zahlen richtig las, denn Jahresabschlüsse von Gesellschaften mit beschränkter Haftung gehörten nicht unbedingt zu seiner bevorzugten Lektüre. Unter »D. Sonstige Angaben« war in der Bilanz von 2011 als Geschäftsführer der Firma Andreas Helmer eingetragen. »Der Geschäftsführer ist einzelvertretungsberechtigt und von den Beschränkungen des § 181 BGB befreit. Ingolstadt, den 09. 10. 2012.«
Um halb zehn rief Marlu an. Sie seien schon seit zwei Stunden im Kühlhauseinsatz, ob er nicht auch vorbeischauen wolle.
»Wieso, ist dir etwa kalt?«, kalauerte Meißner und fing sich ein wütendes Schnauben ein. »Ich hab hier noch zu tun«, fügte er hinzu.
»Arbeitest du an unserem Fall, oder machst du Bürokram?«
»Ich lese Liebesbriefe und Jahresabschlüsse der Donau-Kühlung, wenn’s recht ist.«
»Schon irgendwas rausgefunden?«
»Bin noch dabei. Ich war gestern Abend übrigens noch in der JVA in Neuburg.«
»Und?«
»Aus Eberl ist nichts rauszukriegen. Er steht entweder wirklich unter Medikamenteneinfluss, oder er stellt sich krank, keine Ahnung.«
»Du glaubst nicht, dass er seiner Frau was angetan hat, stimmt’s?«
»Stimmt. Ich glaub’s einfach nicht.«
»Und jetzt sammelst du Beweise dagegen? Du weißt doch eh, was der beste Beweis wäre.«
»Klar. Deshalb würde ich Charlotte wirklich gern finden. Und zwar
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